Diese Seite enthält nur Worte und ist nicht daran interessiert, deine Augen oder Ohren zu unterhalten.

Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

Alles, was hier beschrieben wird, ist wahr. (In deinem Kopf.)



Samstag, 24. Dezember 2011

Das Schwefelweib

Oder: Ein Körper erzählt




Ihre Zähne sind schwarz und vereinzelt wie die Schlote der Fabriken an den Stadträndern. Kaum einer hat diese Zähne je gesehen, sie geizt mit ihrem Lächeln wie mit ihren Worten. Man sagt sie sei einst ein Zündholzmädchen gewesen, das schönste und ärmste des Landes. Doch was man in ihrem rußigen Gesicht noch von Schönheit finden kann, muss man suchen.
Und das wäre ein Wagnis unter ihrem gelben harten Blick.


Trotzdem: wenn Männer (und auch einige Frauen, vor allem die Zündholzmädchen) von ihr sprechen, so schwingt stets auch ein wenig Begehren in den vertraulich gesenkten Stimmen mit.
Sie wohnt nicht mehr in der Stadt (falls sie es jemals tat) und ist schon lange in die Wälder zu den Köhlern gezogen. Dort macht sie Zündhölzer, die sie – immer noch? – selbst verkauft. Nie würde sie ein Mädchen für diese Arbeit anstellen. Vielleicht kommen daher die Gerüchte. Der Mensch liebt die Narben anderer.


Man erkennt sie schon von weitem an ihren langen, verfilzten Haaren und der rußgeschwärzten Kleidung. Der Schwefelgeruch folgt ihr wie ein lästiger Liebhaber, den sie schon lange nicht mehr bemerkt. Ihr auffälligstes Merkmal aber, die vernarbten Wangen, sieht man erst von Nahem. Es sind keine tiefen Narben oder hohe Wülste wie von schweren Schnittwunden, vielmehr ein feines Geflecht, fast wie Wurzelwerk oder Blattadern.
Mit diesen Narben sticht sie selbst das schönste und ärmste Zündholzmädchen aus.


An kalten Wintertagen steht sie versteckt in Hauseingängen oder an Fensterscheiben zu warmen Stuben. Sie muss ihre Kunden nicht suchen, sie wird gesucht.
So steht sie, greift sich manchmal ein Zündholz aus der einen Manteltasche, eine Zigarette aus der anderen, und entzündet mit einem energischen Ruck des Handgelenks das Holz an ihrer Wange. Dann nimmt sie ein, zwei tiefe Züge ihrer Zigarette, spuckt aus und gibt sie einem Vorbeigehenden, Obdachlosen, meist aber den Zündholzmädchen. Diese Geste hat, obwohl sie stets stoisch ausgeführt wird, etwas Herrisches, Herabwürdigendes. Niemand wagt es, diese Zigarette abzulehnen, nicht einmal die Nichtraucher, vor allem aber nicht die Mädchen. Es heißt sie sammelten die Filter und tauschten sie untereinander.


Ihr Geschäft scheint gut zu laufen, wenn ein besonders schöner junger Mann oder eine herausragend bezaubernde junge Frau zu ihr kommt, hält sie ihnen stumm die Wange hin, damit sie ein Streichholz daran entzünden können. Auch dieses Angebot wird nie ausgeschlagen und egal wie sehr alle betonen, wie unangenehm und unheimlich der gesamte Handlungsablauf sei, hat noch niemand, dem diese zweifelhafte Ehre zuteilwurde, davon berichten können ohne rot zu werden und gegen das stolze Lächeln anzukämpfen.


Man sagt, sie wäre schon zweimal gestorben, einmal vor Kälte, einmal im Feuer. Man sagt, vielleicht habe sie das hilflose, stumme Sehnen derer, die von ihr wissen, zurückgebracht. Oder vielleicht die Kälte, die sie hinterließ.


Ihre Figur ist raues dünnes Holz, ihr Gesicht ist aufreibend. Niemand kennt sie tatsächlich, darum ist es eigentlich müßig, diese Gerüchte zusammenzufassen. Ihr Körper erzählt, aber er lügt wahrscheinlich.








der körper erzählt (lügt nie)
nichts neu- nichts alt- nichts änd-
ernd alles andere nur gefühl und er
-inner-
ung




narben (risse) flüstern (fressen) von
verbissenen verflossenen
wissenden




zitternd (nie zaudernd)
witternd (nie lauernd)
ver-
harrt er der dinge die da


mögen

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Die Jagd





Das Haselmull drückt seinen kleinen nackten, blassen Körper tief in die dunkelste Ecke des Unterholzes und lauscht. Seine graue Haut, die sich dünn über den filigranen Knochen spannt, zittert sanft vor Kälte und Aufregung. Scheu richtet es sich auf und wittert. Die schwarzen langen Wimpern über den halbblinden Knopfaugen flattern hoffnungsvoll. Da, da ist es. Das Geräusch, die Erschütterung, nach der es Ausschau gehalten hatte.


Das Traben des Rotwolfs ist weithin zu hören. Sein Geruch ist so scharf, dass selbst du ihn aus mehreren hundert Metern Entfernung wahrnehmen könntest. Er muss nicht schleichen oder pirschen. Er lacht heulend.


Das Mull versteckt sich weiterhin. Das gehört zum Spiel. Zur Jagd. Es hört den Wolf näher und näher kommen, knurren, wüten, Äste zerbrechen und kleine Gewächse entwurzeln. Es muss den richtigen Moment abwarten, darf sich nicht zu früh zeigen, den riesigen Rotwolf nicht verschrecken.
Ein Haselmull ist keine lohnende Beute aber ein gerissener Jäger.


Es hört den Wolf näherkommen, das Geäst bebt unter seinen sicheren Schritten. Sein Geruch ist betörend. Nun ist er schon fast am Versteck des Haselmulls. Das Herz des Mulls pocht als es verschwommen die schweren roten Vorderpfoten erblickt.
Es schießt aus dem Unterholz hervor, unter den kräftigen Körper des Wolfs, dann blitzschnell zwischen seinen Vorderpfoten hindurch. Wie zufällig den Nacken entblößend. Einladend. Bittend.
Der Wolf, mechanisch, schnappt zu.




Deine Schritte zerreißen mich.
Bitte zerbeiß mich nicht
ohne dein heiseres Wildgeschrei.


Pack meinen Nacken,
verrenke Gelenke und
schlage mein Zagen nicht
ohne dein leiseres Lustgestöhn.


Verwöhne meine Schauer.
Schau genauer:
wir sind blutwarm,
nie handzahm,
entrückt,
geschmückt mit Lachen
machen wir die Nacht
zur Wacht
und selbst an Tagen –


lass uns noch einmal Jagen
spielen.

Sonntag, 6. November 2011

Das Unheimliche



Weinend und klagend hievt die Weiße ihre bleichen zitternden Speckschwarten auf die rote Chaiselongue und lehnt sich zurück. Ihre Leibesmassen quellen zu beiden Seiten über das Möbel und hängen träge zu Boden, erschüttert von ihren Schluchzern. Sie sieht aus wie ein überkochender Topf Milch.


Die Person, deren Praxis sie nebst anderen unglücklichen (und auffällig häufig unattraktiven) Patienten besucht, wird von allen nur „das Perspektiv“ genannt. Tatsächlich kennt niemand den richtigen Namen doch das ist auch nicht wichtig, denn sein Ruf eilt dem Perspektiv weit voraus und somit bedarf es keiner Visitenkarten oder Praxisschilder. Es gilt weit und breit als der beste Unheimlichkeitsjäger. Nicht, weil es tatsächlich jemals irgendeine Art von Erfolg verbucht und etwas Unheimliches gefangen und erlegt hätte, sondern schlichtweg, weil es niemand anderen gibt, der diesen Service anbietet.
Jeder, der von etwas Unheimlichem geplagt wird, kann zu ihm gehen und mit ihm jagen. Es ist nicht billig, aber die Nachfrage ist trotzdem so hoch, dass es eine Warteliste von einem ganzen Jahr hat. Nach drei Jahren wird die Behandlung automatisch beendet (denn eine tatsächliche Heilung tritt nie ein) und die Patienten entlassen in eine Welt voller Grusel, dessen sie dann allein Herr werden müssen.
Viele begehen danach Selbstmord, manche lassen sich einweisen. Es findet sich jedes Jahr wieder einer, der glaubt, den Grusel besiegt zu haben, und auszieht, das Fürchten neu zu lernen. Keiner von denen ist jemals zurückgekommen.
Trotz dieser objektiv betrachtet eher negativen Bilanz läuft die Praxis seit 89 Jahren hervorragend.


Die Weiße schreit und weint also und berichtet von Träumen, in denen sie eine fette Maus ist, die vor einer Mausefalle sitzt auf der sich Sahnetorten, Käse und Butter türmen. Wissend, dass sie Falle zuschnappen wird, sitzt sie dort und wird langsam schlank, dünn, mager und verhungert. Jeden Morgen wacht sie hungrig auf und isst Sahnetorte, Käse und Butter.
Das Perspektiv starrt sie durch seine Steinaugen an und fragt: „Warum?“
Das Perspektiv sagt nie irgendwas in den Sitzungen außer „Warum?“ und „Hmm.“


Sie erklärt, dass die als Kind panische Angst hatte, ihr Vater könnte den Job verlieren, und dass das vielleicht damit zusammen hängen könnte.
„Hmm.“


Oder damit, dass sie sich oft fragte, ob ihre Schwester, deren Rehbeine sie immer begehrt und deren Spinnenhände sie immer angewidert hatten, wohl inzwischen gestorben war und nun in ihren weichen weißen Körpermassen wohne.
„Warum?“


Ich könnte dir mehr von dieser Sitzung erzählen aber ich vermute, du verstehst schon. Schließlich stehst du nicht auf der Warteliste des Perspektivs.
Nächstes Jahr feiert die Praxis ihr 90jähriges Jubiläum. Unter uns gesagt, das Perspektiv ist müde und möchte die Praxis an mich übergeben. Ich selbst ekele mich ein wenig vor dem Großteil der Patienten.
Außerdem würde ich die Methode ändern. Ich finde, „warum?“ ist die falsche Frage.




Lass immer eine Lücke,
dort wo Sinn ist.
Reiß nieder jede Brücke,
die die Kluft frisst.


Fülle deine leere Hülle
nicht mit altem schlichten
Dingen. Nur mit Ringen
oder Ketten. Woher
nehmen und nicht sehnen?
Alles ist in dir.


Drum sammle alle Stücke
der Warum-Frist.
Und bau dir Mosaike
.



Samstag, 8. Oktober 2011

Vom Bauen



01:42, gestern Nacht.


Ich laufe also heim, im Regen (Klischees sind noch viel ärgerlicher, wenn sie im echten Leben auftreten). Ich bekomme eine SMS, ich weiß dass sie nicht von dir ist, verbiete mir zu hoffen, mein Magen ignoriert mich wieder einmal. Natürlich ist sie nicht von dir sondern wieder von ihr.
Sie ist charmant und lustig. Ohne eine Miene zu verziehen schreibe ich „Haha,“ gefolgt von ein paar noch charmanteren und lustigeren Sätzen. Ich bin gut darin, Worte auf Worte zu stapeln, solide und gefällig.


Nur wie man eine Rede anfängt, die keinen Grundstein hat, das weiß ich nicht. Ich bin kein Architekt, ich bin Bauarbeiter. Ich wüsste nicht, wie ich die Gefühle, die du mir machst, anziehen sollte – geschweige denn in Worte mauern. Ich habe keine Baupläne.
Ich habe keine Pläne.


Mit etwas Glück wage ich es trotzdem, vielleicht wird eine Hütte draus. Oder sonst irgendeine bewohnbare Konstruktion. Wo es weniger kalt ist als draußen. Wo vielleicht ein bisschen Licht wäre.


Bis dahin schreibe ich ihr und baue Luftschlösser mit Kronleuchtern. Vermutlich zieht sie bald dort ein.
Ich habe keine Pläne.
Ich habe wenig Hoffnung.




ich mag das wie sie mich mag wie sie
mir oft schreibt und sich mühe gibt dabei und wie
sie mich ansieht wenn ich gut aussehe


ich mag das weniger wie du meine zeit
stiehlst und mir liebend die haare zer-
reißt wenn sie mir mal ausgeht


vielleicht mag ich es nur deshalb so wie sie
sicherlich gut im bett und immer oben
wäre wenn du nicht


immer oben wärst und ihren platz
stehlen und mich sicherlich noch mehr ver-
irren würdest wenn ich nur
ein bisschen mehr zeit für dich hätte








Anmerkung: Nach viel Surrealismus, Märchen und Natur jetzt mal wieder harter, postmoderner Realismus. Ich hoffe ich (und wir) haben's nicht verlernt!

Montag, 3. Oktober 2011

Von den Grenzen


Er lehnte sich tief zurück in seinem Lieblingssessel. Er war einer der unbequemsten Sessel in seiner teuer eingerichteten Wohnung, nur getoppt von der französischen Voyeuse, dem Konversationsstuhl, dessen Lehne sich einem in den Rücken presste und der sein Fortleben in der Wohnung allein seinem hohen Kaufpreis und der bemerkenswerten Ähnlichkeit seines Polsterbezugs mit der Tapete verdankte.

Die Sprungfedern drückten sich schmerzhaft durch den dünn gesessenen Bezug in seine knochigen Oberschenkel und seinen verspannten Rücken. Mit jedem Schluck Whisky, den er nahm, überschlug er im Kopf grob, wie viel Geld er da gerade trank. Eine uralte Angewohnheit, die sein Konsumverhalten vor Jahren geprägt und ihn zum Teil dorthin gebracht hatte, wo er heute war, und die er nun, da er mehr Geld hatte als er ausgeben konnte, nicht mehr abstellen konnte.

Müde rieb er sich die Augen und Schläfen, an denen sein Haar bereits schütter war. Er hatte die Papiere, die er sich mit nach Hause genommen hatte, durchgearbeitet und noch über fünf Stunden, bevor er wieder aufstehen musste. Zuviel Zeit, um jetzt schon ins Bett zu gehen, zu wenig Zeit um sich noch eine Prostituierte zu bestellen. Mit seiner fünf Stunden Regel (wie mit allen seinen Regeln) war er streng.

Seufzend strich er über die blassgrüne Armlehne seines Sessels und leerte sein Glas. Er erlaubte sich einen kurzen, nostalgischen Traum über die Frau, die ihm den Sessel vor vielen Jahren geschenkt hatte. In einer Wohnung, in der blassgrün nicht deplatziert schien. In einem Leben, in dem es vorgeschriebene, nicht selbstgemachte Grenzen gab.
Um Punkt 02:00 Uhr morgens löschte er das Licht, putzte sich die Zähne und ging ins Bett.


Ich muss wändelehnen
und grenzendehnen,
Räume erfüllen und
Träume enthüllen.

Ich will mich er-fühlen.
Mein Geschlecht zer-wühlen,
meinen Kopf zer-spüren
und mein Herz ent-rühren.

Im Fesselnsprengen,
im Kräftekennen –
nur im Kampf
bin ich.

Sonntag, 18. September 2011

Das Rauhtierchen




Es lebt in Sonnen-, Stern- und Mondkleidern, gleißend unter seinem Rauchpelzmantel. Verborgen unter Herbstlaub und trockenen Zweigen, die meist nur von buckligen Weibern mit Rindenhänden oder groben Köhlern mit Kohlefingern auf der Suche nach Feuerholz beiseitegeschoben werden. Setz deine Schritte mit Vorsicht, wenn du das nächste Mal nach Pilzen suchst, und lass deine Flinte zuhause. Schreck es nicht auf.

Es spinnt deine Träume und wickelt sie auf seine Goldhaspel. Es lädt dich ein in seine Nussschale, in dem auch die grüne Fee oft zu Besuch ist. Und die Träume, die du nie hattest, wird es dir dort erfüllen.

Gestern erst war ich dort. Meine Träume sind braun und trüb wie ein Fluss nach einem Unwetter. Ich liebe mein Tierchen in seinem Rauchpelzmantel und will die Kleider nicht sehen.
Seine kleinen Brüste zitterten wie Vogelkehlen unter meinen Händen.

Es hört auf viele Namen. Peau d’Âne, Allerleirauh, Rauchfell. Nur den Namen Erdtochter hat es gemeinsam mit seiner Menschenhaut abgelegt.
Ich rufe es mein Rauhtierchen.

Suche es. Finde es. Halt es und gib es frei.
Den Ring trägt es schon.


Ich bin stets die,
die du willst.
Stillst meinen Durst
mit Blicken.
Wirst meine Lust
ersticken.

Ich bin stets das,
was du brauchst.
Rauchst meinen Atem
wie Drogen.
Raubst meinem Warten
den Glauben.
Trinkst meinen Schatten
wie gärende Trauben
und spannst einen glatten
und singenden Bogen

auf mein stolperndes Vogelherz.
Liebesschmerz und holprige Worte
umschwirren meine Wünsche
wie Motten die Monde,
wie Mücken die Sümpfe.


Mittwoch, 7. September 2011

Vom Begraben

Oder: Vom Leben



Die kleine Seefrau huschte wieder einmal im schwarzen Wald herum. Man sah sie dort immer öfter neuerdings, mit dem ewig hängenden Kopf, dem schiefen Gang und den tiefen Falten zwischen den meerblauen fischblanken Augen. Früher wusste man immer genau wo sie sich gerade aufhielt, man musste nur den Schmerzensschreien und dem Heulen und Wimmern folgen. Inzwischen hatte sie gelernt auf ihren zerschnittenen Messerfüßen leiser zu laufen als die Schatten über die Baumstämme und flinker zu entschlüpfen als die Nachtmahre durch die Kamine. Nur die bitteren Züge um die blassen Lippen und das leicht groteske o-beinige Humpeln, das sie sich angewöhnt hatte, deuteten darauf hin, dass die Schmerzen noch immer da waren, auch wenn sie sie zu einem Teil von sich gemacht hatte.

Wie jedes Mal auf ihren Streifzügen griffen ihr die Bäume in das lange weiße sich windende Meerschaumhaar in der Hoffnung, ein paar Stränge zu ergattern. Doch sie stieß weder ihr gurgelndes Lachen noch ihre donnernden Schimpftiraden aus. Die Bäume, Gräser, Käfer und Geisterseelchen, die sie passierte, wunderten sich.
In einem schmutzigen Tuch, das wie ein Bettlaken aussah, trug sie etwas. Tief im Herzen des schwarzen Waldes an einer Stelle, die ebenso schwarz wie jede andere in diesem verwunschenen Ort war, fiel sie plötzlich auf die Knie und fing an mit ihren feinen Fingern zu graben. Ein paar Wurzeln knarzten gekränkt doch auch dies strafte sie mit Schweigen.

Schließlich nahm sich eines der Geisterseelchen ein Herz und fragte sie in der Sprache der Meerjungfrauen, was das in dem Betttuch sei. Geisterseelchen sprechen die Sprachen aller Lebewesen, aber sie sprechen nicht gerne. Das klingt auf Anhieb traurig und ironisch, aber wenn man darüber nachdenkt ist es doch ziemlich verständlich.
Die Meerfrau aber schüttelte wütend den Kopf und ihre Brunnenaugen, die sonst eigentlich nur zur Traurigkeit taugten, sprühten Funken. Manchmal mochte sie es nicht, wenn man in der Sprache der Meerjungfrauen mit ihr sprach. Manchmal weinte sie vor Glück, wenn man es tat. Es kam immer ein wenig auf den Tag an, und das wiederum hing hauptsächlich von der Frau ab, die sie Mutter nennen musste und der das winzige Zimmer in dem riesigen Haus, in dem die Meerfrau mit anderen weiblichen Verirrten lebte, gehörte. Die Mutter mochte es nicht, wenn die Meerfrau in den Wald ging, denn obwohl sie nicht wusste, was genau dort vor sich ging, so hatte sie doch das Gefühl dass es etwas war, woran sie einige Silber- oder gar Goldkörner hätte verdienen können. Jedes Mal wenn die Meerfrau von ihren Streifzügen zurückkam klapperten die Schlangenhaare der Mutter bedrohlich.
Das Geisterseelchen (der Himmel weiß woher es diesen Mut nahm) versuchte es noch einmal in der Sprache der Menschen. Diesmal seufzte die Meerfrau nur, nahm das Bündel und stopfte es grob in das Loch, das sie gegraben hatte. Sie schien konzentriert zu überlegen während sie das Loch mit Erde bedeckte und schließlich sagte sie bedächtig und mit ihrem hallenden, tropfenden Meeresaktzent in der Sprache der Silberhirsche: „Ich begrabe meine Sprache.“

Verwirrt sahen sich alle Bewohner des schwarzen Waldes, die sie bis dahin beobachtet hatten, an. Eine Feuerlibelle holte den Silberhirsch, mit dem die Meerfrau seit Jahren hin und wieder schlief und für den sie überhaupt erst die Sprache der Hirsche gelernt hatte. Die Libelle hatte die beiden oft heimlich beobachtet und sich über die Geräusche und das Ringen der beiden weißen Körper in all dem Schwarz gefreut. Der Hirsch flog auf seinen schlanken Beinen und hatte sie eingeholt, lange bevor sie den Wald wieder verlassen konnte. Dankbar setzte sie sich auf seinen Rücken um sich das letzte Stück tragen zu lassen und massierte ihre Messerfüße.
„Warum hast du das getan?“ fragte der Hirsch, sehr langsam und deutlich sprechend, damit sie ihn verstehen konnte. Als sie nichts sagte fügte er hinzu: „Die Sprache der Menschen sprichst du nur mit der Mutter und im Haus. Meine Sprache sprichst du kaum. Wie willst du hier weiter leben?“

Die Meerfrau warf einen traurigen Blick in die Richtung, in der sie ihren Strand vermutete. Dann antwortete sie unsicher: „Aber ich lebe jetzt hier.“ Sie legte die erdverkrustete Hand um das kühle Geweih des Silberhirschen und fügte mit einem leisen Lächeln hinzu: „Du musst jetzt oft mir mit schlafen und sprechen.“

Der Hirsch warf sie mit einem Ausruf, der sich in unserer Sprache schlecht wiedergeben lässt, ab. Die Feuerlibelle jauchzte leise und versteckte sich im Gebüsch.



Darwins Wünsche belauern sich
wie Haie in deinem Herzen.
Sie messen, fressen, verdauen sich.
Du trägst sie, begräbst sie und trauerst nicht.
Was bleibt sind Wehenschmerzen

und Morgen-übelkeit.



Acrosswords is back online! Ich hatte jetzt für über einen Monat keine feste Bleibe. Nun, da ich wieder eine Wohnung und Internetanschluss habe werden die posts hoffentlich wieder etwas regelmäßiger kommen.
Zum Text an sich: ich bin noch einmal zum Surrealismus zurückgekehrt und habe ein bisschen die Genres mit Märchen vermischt. Gut durchgeknetet und bei 36° für ein paar Stunden in den Kopf - und schon haben wir den neuen Blogeintrag.

Am besten warm zu genießen, mit einer Prise Nelly Sachs:

Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.

- Danke, Mama, für den Hinweis auf das Gedicht und die Inspiration!

Dienstag, 12. Juli 2011

Auswandererlied



Er packte routiniert seinen abgewetzten Koffer, der ewig gleichen Packliste, die er doch immer neu schrieb, folgend. Er wog ihn, mehr aus Gewohnheit, und wusste doch, dass er die 20kg nicht überschreiten würde. Die Waage zeigte 19,3kg.

Er freute sich, dass er trotz allem noch die gleiche Aufregung verspürte, die er so gut kannte und liebte. Das war Innen. Von außen betrachtet – sah sein Spiegelbild müde aus. Und alt.
Er fuhr sich mit seinen nervös-feuchten Händen über die Schläfen, an denen das Haar schütter wurde. Dann lächelte er probehalber und erschrak, als er die verzerrte Grimasse, die sein Gesicht war, sah.

Irgendetwas in ihm zog sich zusammen, als er sich in dem leeren Zimmer umsah.
Ihm fiel auf, dass sein Koffer in den letzten sieben Jahren nie schwerer geworden war und sich der Inhalt, abgesehen von den Fotos neu gewonnener und schnell verlorener Menschen, kaum verändert hatte. Plötzlich wollte er nichts lieber, als diese Fotos auszupacken und wegzuwerfen, sie kamen ihm vor wie Leichen. Er war ein fauler Totengräber, der seine Särge nur herumschleppte, ohne sie jemals zu beerdigen.

Um die Panik zu besiegen sagte er sich, er könne ja zurückkommen, hierher. Das half ein wenig. Mit zitternden Händen öffnete er die Schnallen seines Koffers, blätterte durch die Fotos und zog eines hervor, das ihn mit einer jungen Frau zeigte. Sie lächelten beide und hier glaubte er sich das Lächeln. Er steckte das Bild hinter den Spiegel.

Das Taxi klingelte.


Ich habe meine Wünsche begraben,
es gab keinen Leichenschmaus.
Nur ein Haufen frischer Erde,
wie für ein Kätzchen,
und kein Stein.

Ich habe aufgehört meine Geduld zu essen
und dünge damit nun mein Grab.
Immer hoffend, dass eines Tages
ein Haus daraus sprießt.

Immer hoffend.

Wenn es einen Stein gäbe,
so wäre er aus Lehm
und die Inschrift aus Kreide:
Hier ruht
das Herz, der gefesselte Flüchtling

Wartend auf die Umarmung
der mahlenden Hand der Zeit

und immer hoffend.



(Anmerkung: In dem Gedicht finden sich Anspielungen auf "Die gekrümmte Linie des Leidens" von Nelly Sachs. Ist für die Interpretation zwar relativ irrelevant, trotzdem ein Gedicht, das jeder kennen sollte.)

Sonntag, 10. Juli 2011

Das Gewitter



Sie trug ihr Kleid aus abgestreiften Schlangenhäuten. An manchen Stellen wurde es schon brüchig, die Häute waren nun einmal ein paar Jahre alt und recht trocken, obwohl sie das Kleidungsstück regelmäßig mit verschiedenen Tierfetten einrieb. Wenn sich irgendwo aber doch ein Loch auftat, nähte sie eine Pfauenfeder darüber. Sie schwitzte so sehr, dass die schillernden Häute an ihr klebten und tatsächlich so aussahen, als seien sie Teil ihres Körpers.

Bedächtig und mit zitternder Hand zog sie die Mandelform ihrer Augen nach, links mit einem grünen Stift, rechts mit einem blauen. Dann begann sie mit Lidschatten in ähnlichen Farbtönen weiterzuarbeiten, bis sie sich in ihrem Spiegel aus zwei schillernden Pfauenaugen anblickte. Sie lächelte zufrieden, wischte sich über die feuchte Stirn und warf einen hastigen Blick aus dem Fenster. Die Wohnung im sechsten Stock bot ihr einen wunderbaren Blick über München, und einen noch besseren Blick auf den Himmel. Die Wolken, die vor kurzem noch verstreut und weiß am Himmel herumgeirrt waren, hatten sich inzwischen zusammengefunden und dunkel verfärbt.
Sie jauchzte unterdrückt bei dem Gedanken an das nahende Gewitter. Sie würde es begrüßen wie einen alten Freund und sich ein wenig mit ihm unterhalten. Vielleicht auch mehr. Sie war vorbereitet.

Schnell wandte sie sich wieder dem Spiegel zu und konzentrierte sich auf ihre Lippen. Ihr Mund war keiner dieser runden, vollen, weichen Münder, die so süß und sanft aussahen wenn sie Brauntöne trugen. Nein, ihre Lippen waren scharf geschnitten wie Messerklingen und brauchten dunkles Violett, das schon ins Schwarze überging. Bedächtig trug sie es auf.
Dann betrachtete sie sich verzückt in ihrer schillernden Schönheit. Ja, sie war bereit für das Gewitter und alles, was es ihr bringen sollte.

Sie setzte sich unruhig auf das Bett und scheuchte die Katzen weg, die sich darauf bissen, weg. Sie wollte keine Zuschauer.

Die Wolken bewegten sich träge und zäh wie Honig. Doch sie kamen nicht näher.
Sie fühlte die Panik und die Wut in sich aufsteigen, während ihr das Makeup in bunt leuchtenden Schweißbächen über das Gesicht lief. Es würde vorbeiziehen. Es würde vorbeiziehen.

Als die Klingel läutete sprang sie keifend auf, stürmte zur Tür und riss sie auf.
„Was?“ zischte sie. Die bunten Schweißtropfen mischten sich mit Tränen, sammelten sich an ihrem Kinn und fielen auf das durchsichtige Kleid.

Der kleine alte bucklige Nachbar von Gegenüber zog freundlich seinen völlig durchnässten Hut, wrang ihn verlegen kurz aus und steckte ihn dann schnell in die Tasche seines ebenso nassen bodenlangen Mantels ehe er sagte: „Verzeihen Sie die Störung, ich bin auf dem Heimweg in dieses furchtbare Gewitter gekommen und mir fiel ein, dass ich keinen Honig mehr habe. Sie wissen ja sicher selbst, dass eine heiße Milch nur mit Honig vor Erkältung schützen kann. Vom Geschmack ganz zu schweigen.“ Er lächelte milde und vermied es höflich, auf ihre nackten, schlangenhautbedeckten Beine oder Brüste zu sehen.

Sie hatte völlig erstarrt zur Kenntnis genommen, dass er ihr Gewitter erlebt hatte und nun, wie um sie zu verspotten, ein heißes Getränk zu sich nehmen wollte, während sie buchstäblich zerfloss. Sie öffnete die Tür ein wenig weiter und verzog das Gesicht unter der flüssigen Makeup Schicht zu einem Lächeln.
„Kommen Sie doch bitte herein. Wir werden sehen, was ich für Sie tun kann.“


Das Warten
ist eine lange Sommerhitze
die gelassen
wie ein Lächeln
das Versprechen auf Gewitter
trägt

Das Warten
ist ein blanker Sommerhimmel
ohne Horizont
in dem du fällst
in dem niemand dich fängt
Arme klebrig vom Schweiß

Manchmal spielt es
manchmal lügt es
wie eine Frau
und du hoffst und fällst
(vielleicht doch in die Spinnenumarmung)
und du seufzt enttäuscht
und sehnst dich heimlich nach
dem Danach
in diesem Fall: dem Schlag



Anmerkung: Hier mal wieder etwas eigenes. Ich muss mich wohl erst wieder hineinfinden, aber dieser Text hat mir wirklich Spaß gemacht. Stilistisch angelehnt an Leonora Carrington und den Surrealismus allgemein. Eine kleine Fingerübung sozusagen (ich werde, auf lange Sicht, vermutlich bald wieder zum Realismus zurückkehren).

Freitag, 22. April 2011

Tin Roof



Ungefähr zwanzig junge Menschen sitzen im sonnigen Hof der alten Lagerhalle, die nun schon seit einigen Monaten von arbeitslosen Kunststudenten als Studio genutzt wird. Selbst für Passanten, die Tin Roof nicht kennen, muss klar sein, dass dies eine kreative Gruppe ist: die abgetragenen Second Hand Klamotten, die Hüte, die Farben, die Dreitagebärte, der süßliche Geruch von Gras, der über der Szene hängt und sogar den Grillgeruch überdeckt.


Es ist laut obwohl niemand auch nur ein Wort spricht. Schweigend wechseln sie sich am zischenden Grill ab. Ein paar von ihnen spielen ein obskures Spiel mit zehn Holzblöcken, die sich in zwei Fünferreihen gegenüberstehend einen etwas höheren und spitz zugeschnittenen Holzblock einschließen und scheinbar nacheinander mit kleinen Sandsäcken umgeworfen werden müssen. Ein Mädchen springt im letzten Moment zur Seite, als einer der Klötze getroffen und knapp an ihrem Bein vorbei über den Hof geschleudert wird. Sie lacht.
Ein junger Mann mit rötlichem Bart liest E. E. Cummings.

Hin und wieder steht irgendjemand auf und geht zu den Leinwänden und der Skulptur, die bisher aus Leim, Glas und Asche zu bestehen scheint, und fügt irgendwas hinzu. Eine Farbe, eine Form, ein neues Material. Kein Wort.

Während die Kohlen in der Dämmerung langsam erkalten und die Skulptur mehr und mehr zu einer Bierflaschen- und Altglassammlung verkommt verliert sich das Konzept. Wirre Stimmen schwirren durch Glas und Glanz.


wir     sind in rauch     ausgebrochen
worte     in uns nicht-     gesprochen
schweigen ist gold
finger
zeigen gewollt
: zwinger
wünsche:     rosten getürmt
wir:     lauschen erzürnt
-en   rauchzügen   rauschend im nachtraum


twenty-odd kids     sitting about     smoking
twenty-odd words     lingering un-     spoken
silence is gold
-en     eyes
science unfold
-ing     sighs
thoughts:     piled up rusting
we:     wound up thrusting
smoke trains       into the night



Anmerkung: Dies ist mein erster Versuch in diesem Stil, der natürlich stark E. E. Cummings inspiriert ist. Die unregelmäßigen Updates tun mir sehr leid, ich stehe wenige Wochen vor Studienabschluss.

Donnerstag, 7. April 2011

Betrügen: eine Anleitung



Sie war selten von so vielen schönen Männern umgeben gewesen. Noch viel seltener war sie von so vielen schönen Männern bemerkt worden. Und noch nie hatten sich so viele schöne Männer um sie gerissen.

Es war ihr egal dass all die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wurde, ganz offensichtlich daher rührte, dass sie das einzige Mädchen im Raum war. Sie genoss sie in vollen Zügen.

Der Vampir war mit Sicherheit der direkteste ihrer Anwerber. Er füllte ihre Getränke nach bei jedem Schluck, den sie nahm, er berührte sie leise, er lächelte sein kaltes Lächeln und stellte sicher, dass sein schlanker hochgewachsener Körper stets in ihrer Nähe war.

Der Prinz brachte sie zum Lachen. Seine blonden Locken fielen ihm in die Stirn und in die braunen Augen, die ihren Blick im Schraubstock hielten und nicht freigaben.

Der Däne hatte etwas Anziehendes in seiner stillen Zurückhaltung. Obwohl er sie nicht einmal direkt anzusprechen wagte war er präsent für sie, physisch und psychisch. Er warf mit seinem harten Akzent große Worte in die Runde, die sie nicht verstand und die sich in unter ihre Haut schraubten.

Der Fuchs betrachtete sie aus der Ferne, sein grauer Blick wanderte scheu durch die Männermenge und anstatt zu trinken spielte er nervös mit seinem dünnen rötlichen Bart. Höflich zeigte er allen seinen männlichen Gästen den Weg zur Toilette und füllte ihre Gläser, wenn die mitgebrachten Getränke zur Neige gingen. Doch am Ende galt auch seine Aufmerksamkeit nur ihr. Ihr Herz zuckte wenn ihre Blicke sich begegneten. Sie wusste nicht wieso. Sie hatte vergessen wieso.

Sie verließ die Küche, in der sich alle Gäste aufhielten, und fühlte ihren Weg durch die dunklen Korridore zur Toilette. Dort angekommen hörte sie ein unterdrücktes Fluchen: der Vampir konnte den Lichtschalter nicht finden. Nachdem sie ihm gesagt hatte dass sie ihm helfen würde hatte sie kaum Zeit die Wände abzutasten, da hatte er sie schon gepackt und geküsst. Ihr Kopf schrillte und schmerzte, sie verging fast im Sublimen.
Als er sie losließ stolperte sie in eines der Nebenzimmer und sank zitternd an der Wand zu Boden. Der Alkohol und die Hitze drehten sie in benommenen Kreisen. Sie hörte ein Geräusch an der Tür und wollte schon protestieren als sie in der Dunkelheit an Stelle der erwarteten hageren Gestalt einen viel kleineren Mann mit Lockenschopf eintreten sah, dicht gefolgt von der kantigen Figur des Dänen. Der Prinz nahm sie in seine Arme, liebkoste sie zärtlich und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Sie nahm es kaum noch wahr, als er seine Hand unter ihr T-Shirt schob. Der Däne starrte.

Als sie erwachte war sie noch immer in diesem Raum, den sie wie zum ersten Mal wahrnahm. Inzwischen spendete eine kleine Nachttischlampe ein Minimum an Licht. Auf dem großen, ordentlich gemachten Doppelbett lag der Fuchs neben ihr und reichte ihr schweigend ein Glas Wasser als er merkte, dass sie erwacht war. Als sie ihn sah zog sich ihr Magen zusammen. Der Geschmack in ihrem Mund sagte ihr dass es nicht das erste Mal an diesem Abend war.

Sie schwiegen lange. Aus reiner Gewohnheit fuhr sie über den glatten hölzernen Bettrahmen. Sie betrachtete das Foto von ihr und ihm auf dem Nachttisch. Selbst im Zwielicht noch schimmerte sein Haar in dem Rotton, den sie so liebte. Sein Haar auf dem Kissen, sein Haar im Rahmen. Auf dem Bild lächelte lächelten sie beide.
Sie drehte sich wieder zu ihm.


Und sie lächelten nicht.


Es ist ganz einfach:
du musst nur zweimal
nein
und dann einmal
ja
sagen und dann
geht es wie von selbst.

Dann wird alles
flaschengrün
und eine scharfe Scherbe
vielleicht eine Rutsche,
die in einer
Dreitagebartwiese endet.

Verspielt
hast du bereits, also
spiele
mit ganzem Einsatz
bis zum bitteren
Ende.

Denke nie an Morgen.

Hier endet die Anleitung.


Mittwoch, 30. März 2011

Zu (z)weit



Zu zweit waren sie überraschend erfolgreich, vor allem sie.


In ihren weißen engen Tank Tops , die ihre kleinen Brüste unter den schwarzen Hosenträgern eher betonten als verdeckten. Mit ihren High Heels, die ihre mangelnde Körpergröße zwar korrigierten, gleichzeitig aber ihren Gang in ein ungelenkes Staksen verwandelten und ihre Sportlichkeit nur unterstrichen. Mit ihrer grünen übergroßen Cordjacke, die sie vor Monaten von ihm bekommen hatte und die ihr wohlgehüteter Schatz war. Jeder wusste dass diese Jacke ein Symbol ihrer Zugehörigkeit und Loyalität ihm gegenüber war – sie hätte genauso gut eine Leine tragen können.

Wann genau sie von Partnern in life zu Partnern in crime wurden wusste niemand so genau, wahrscheinlich wussten sie es selbst nicht. Für wenige Wochen hatte es tatsächlich so ausgesehen als hätte sie ihn, den Frauenheld und Schürzenjäger, den Abenteurer, den Cowboy, gezähmt. Dann hatten sie eines Abends in ihrem nach wie vor spektakulärsten Raubzug in derselben Nacht und in derselben Wohnung zwei Zwillinge flachgelegt. Seitdem war sie ihm optisch immer ähnlicher geworden, sie trug seine Klamotten, hatte sich sogar seinen Haarschnitt verpassen lassen und sah auf bizarre Weise aus wie seine kleine Schwester – oder vielmehr sein kleiner Bruder. Man sah sie tagsüber kaum noch zusammen, dafür waren sie nachts unzertrennlich. Sie hatten sich auf weibliche Zweierpärchen eingeschossen, Freundinnen oder besser noch Schwestern, er traf die Auswahl und machte den ersten Schritt, sie folgte ihm wie ein Schatten und nahm, was er ihr übrig ließ.
Obwohl sich vor allem anfangs nicht jedes Mädchen auf das Spiel einließ und sich mit der kleinen (und weiblichen) Kopie einer der beliebtesten Männer der Stadt zufriedengab mussten selbst die größten Zyniker zugeben, dass ihre Erfolgsquote unerwartet hoch war und dass sie Frauen mit nach Hause nahm, an denen sich schon viele attraktive Männer die Zähne ausgebissen hatten.

Inzwischen ging es soweit, dass sie als Trophäe selbst bei Frauen nahezu beliebter war als er. Diese Entwicklung brachte ihre Routine, in der er die erste Wahl hatte, etwas durcheinander wenn sich seine Auserwählte von ihm abwandte und mit ihr zu flirten versuchte. Doch ihre Loyalität kannte keine Grenzen, sie begegnete solchen Annäherungsversuchen mit eisiger Kälte und wand sich unter seinen strafenden Blicken. Andere Männer ließ sie nicht einmal in ihre Nähe.

Zum Teil war ihre Popularität vermutlich der Tatsache geschuldet, dass niemand so richtig wusste was geschah, wenn sie ein Mädchen mit zu sich oder mit zu ihm nach Hause nahm. Während seine Eroberungen bereitwillig Auskunft über Stellungen, Technik und Ausdauer gaben, hüllte sich jedes einzelne ihrer Mädchen in dunkles Schweigen. Es war ein Geheimnis, das sie alle verband, und es sah nicht so aus, als hätte irgendwer vor es zu lüften.


Bring mich um
mehr weiße Nächte.

Ich liebe die Peitschenhiebe
deiner Blicke. Triebe mein Fieber
Richtung Licht,
ich müsste es erklimmen
mit erregungsklammen Händen,
hoffnungsklammern und enttäuschungsjammern.

Ich kann nicht still sein
will ich die sein
die du siehst wenn du leise Träume träumst.

Montag, 21. März 2011

Notfallwhisky

Inspiriert von Michael Blacks „My brother is an only child


Es gibt Nächte, in denen ist es so kalt, dass du nicht einschlafen kannst. Auf die Seite gelegt umschlingst du deine Beine und drückst das Gesicht zwischen die Knie, um die Wärme deines Atems einzufangen. Dein gesamter Körper wird eine einzige, koordinierte Masse arbeitender Muskeln, die das bisschen Energie, das übrig ist, möglichst schnell und gerecht verteilen. Gedanken hast du keine. Nie bist du so Tier wie in diesen Nächten, in denen es so kalt ist, dass du nicht einschlafen kannst.

Und dann, wenn der Kampf gegen die Temperatur aussichtslos erscheint und du eben doch in einen verstörten Schlaf stolperst, dann erst geht es wirklich los. Du erfindest die Angst neu.

Das Model starrt dich an mit seinen Puppenaugen. Die roten Lippen sind zu einem grässlichen Kameralächeln verzerrt und eingefallenen Wangen scheinen fast schwarz in dem Pergamentgesicht. Sie hat wilde rote Locken, die sie wie eine Mähne schüttelt und dabei lacht. Ihre Stimme ist Kreide auf einer Schiefertafel. Du bist nervös und weißt nicht wieso. Du wirfst einen Blick auf die anderen Mädchen, die ihr gegenüber mit dir in einer Reihe stehen, sie sind nicht nervös. Sie wissen auch nicht, warum du nervös bist.
Das Model kreischt Befehle in eure Reihe. Die Mädchen folgen gehorsam und drehen sich einmal im Kreis, laufen auf und ab, fallen auf die Knie oder binden sich die langen braunen Haare zurück. Sie haben alle lange braune Haare, abgesehen davon sehen sie genauso aus wie das Model. Bald bist du an der Reihe. Du fragst dich, welche Übung du vollführen sollen wirst. Du fragst dich, ob du deswegen nervös bist. Aber das ist es nicht.
Eines der Mädchen legt die Haare über die Schulter. Und plötzlich siehst du es. Die Haare des Models sind gar nicht rot, das ist das Blut. Dir wird übel. Das Blut ist Teil des Grundes, warum du nervös bist. Du willst nicht hinsehen aber du musst es nun wissen.
An Stelle von Armen fuchtelt das Model unter Schreien und Keifen mit zwei blutigen Stumpen herum. Ihre Locken kleben daran fest. An der linken Schulter ist noch ein wenig zerfetztes Fleisch und so etwas wie ein Ellenbogengelenk erkennbar. Die rechte Schulter setzt sich nur ein paar Zentimeter fort, aus dem glatt abgeschnittenen Ende strömt ein feiner Blutstrahl.
Nun bemerkst du auch die Sanitäter, die emsig versuchen, eine Trage unter sie zu schieben. Sie scheint zu sitzen, aber du willst nicht genauer hinsehen, aus Angst dass sich ihre Beine als genauso verstümmelt herausstellen wie ihre Arme. Du siehst nicht hin. Du siehst nicht hin.
Die Sanitäter laufen zwischen den Mädchen hindurch und schieben sie beiseite. Die Mädchen sind nun regungslos, sie sind Schaufensterpuppen. Du willst eine von ihnen anfassen, da merkst du es.
In deinen Händen, schuldbewusst hinter dem Rücken versteckt, hältst du die Reste ihrer Arme. Du starrst sie für einige Sekunden fassungslos an. Dann lässt du sie fallen. Du willst dich übergeben, du beugst dich zur Seite, um dich nicht auf ihre Armreste zu übergeben, du willst dir die Haare aus dem Gesicht halten aber du kannst nicht, deine Hände sind verklebt mit Blut, Haut, Fleisch und einer schwarzen, schmierigen Substanz, du streckst die Arme links und rechts soweit es geht von dir und nach hinten. Du kannst sie trotzdem riechen. Du würgst in deine langen braunen Haare hinein, aber du übergibst dich nicht.
Du willst einem der Sanitäter erzählen, was geschehen ist, aber niemand außer dem Model kann sprechen. Sie kreischt und befiehlt mit unvermindertem Nachdruck. Du deutest auf die Körperteile am Boden, niemand sieht dich.
Du betrachtest die Schaufensterpuppen. Es sind keine Schaufensterpuppen, es sind immer noch die Mädchen. Sie tun nur so als ob. Du siehst, dass sie eben doch von Anfang an wussten, was hier geschieht, und nur unheimlich froh waren, dass sie nicht an deiner Stelle stehen. Du hasst sie.
Du wischst deine Hände an den Nylonhaaren des Mädchens neben dir ab. Sie werden nicht wirklich sauber, aber du siehst wie sich ihre Augen entsetzt weiten.

Du wachst auf in derselben Haltung, in der du eingeschlafen bist. Dein Bett ist nass vom Schweiß und von deinen Tränen. Du hast einen bitteren Geschmack im Mund.
Schwer atmend starrst du lange in die Dunkelheit und lauschst, hoffst irgendein vertrautes Geräusch zu hören. Etwas, das dir beweist, dass die Welt ohne Angst nach wie vor da ist und dich sicher hält. Die Kälte hast du vergessen.
Unter Schmerzen lockerst und löst du deine verkrampften Muskeln und rollst du dich auf den Rücken. Mit der rechten Hand tastest du in deiner Nachttischschublade. Kondome, Vibrator, da – Notfallwhisky.


Höflich klopft,
stilvoll schleicht
mein Nachtmahr.

Bleiern tropft
Schweiß und bleicht
Haut und Haar.

Dalí schwingt den Pinsel
durch schwarzrote Uhren und
langsam bewegen sich Buñuels Linsen
durch Augen und Hände und Ameisenschwärme
doch Cesares Sarg rastet ruhig und wartet
auf Jeanne d’Arc. Die weiß es. Und leisesten Fußes
besteigt sie den weißen Thron.
Schon schlägt es zum Tanze und ganze Heere
von Männern auf Mähren mit Mahren
erschlagen sie.

Ludwig van zählt sie feierlich an.

Montag, 14. März 2011

Mein Bruder ist Einzelkind

Es war das erste Mal, dass er ihr erlaubte, in seinen Notizen zu stöbern. Gebannt starrte sie auf die ungelenke Handschrift des 16jährigen, und sie stellte die Musik ab. Belle and Sebastian verstummten. I was happy for a day in 1975.

Ungläubig las sie den Text, den sie von einem Jungen seines Alters nie erwartet hätte, noch einmal. Dann betrachtete sie das Foto von ihm mit seinem Freund, das auf seinem Schreibtisch stand. Er, dessen Gesicht nichts als große dunkle Augen und volle Lippen war. Der andere, blasse Blonde, dessen skandinavisches Gesicht etwas Diabolisches hatte in all seiner durchsichtigen Schönheit.

Sie nahm sein Notizbuch und setzte sich zu ihm aufs Bett, den Kopf auf seine Schulter gelegt. Sie wusste dass er es nicht mochte, wenn sie ihm so nahe kam, doch seine Haare rochen wie das Fell ihrer Katze, sauber und nach Sommerstraße. Sie mochte das elektrische Knistern.

Nicht zum ersten Mal überlegte sie, was wäre wenn…
Doch es war anders. Alles, was sie heute oder jemals von ihm bekommen würde, waren diese Katzennächte, deren Spannung er hasste und sie liebte.
„Lies es mir vor“, bat sie ihn und legte ihm das geöffnete Buch auf die schmalen Jungenoberschenkel. Er nahm es, hielt es steif in der Hand und begann mit seiner dünnen, hohen Seidenstimme zu lesen.


Allein auf der Schaukel
durch die Nacht fliegend
halte ich plötzlich an und überlege
wie wär’s denn wenn ich
bei den Schwänen wäre und bei der Frau mit
den unkontrollierbaren Haaren
Aber weißt du, das kann ich nicht denn
mein Bruder ist Einzelkind.

Meine Eltern haben Jahre gebraucht um es zu merken.
Sie fragten den Arzt,
aber es war der aufgehängte Wissenschaftler, der
ihnen endlich Antworten gab.
Sie sprachen von seinem Haarnetz und seinem Kaugummi,
dass er sich so vor den Augen der Straßenecken fürchtete
mit all den fleischigen Straßenlaternen

als ob die gefährlich wären.
Rotlicht macht ihn gefährlich
mit einer Tonne Stahl im Bein.
Er strampelt wie ein Kind ohne
Eiscreme, was natürlich nicht die Antwort ist.
Es gibt keinen Grund dir zu erklären warum
mein Bruder Einzelkind ist.

Ich fragte ihn einmal
während er den
Eiffelturm
mitten in Paris bestieg
ich konnte ihn nicht hören
weil er flüsterte
wie eine Mundharmonika, die in der stillen
Hintergrundnacht unter roten Seidenvorhängen spielt.

In der Tiefe des Nachmittags
schrieb er auf meine Hand
Ich komme aus einer kleinen Wüste, versteckt
an einem unbekannten Ort.
Er sagte, dass Bücher ihm ins
Gesicht schlagen wenn es jemand erführe und
das mindeste, was ich tun konnte, war
meine Augen zu schließen.

Ich fuhr nach Indien in einem Boot und sah
die lange Kurve seines Rückens nicht
bevor ich ging.
Zehn Jahre später hatte er seine Hände abgeschnitten.
Entsetzen rannte durch die Straßen wie
Mäuse ohne Käse
ich schwamm zu seinem Hotel und schlug die Tür ein.

Da saß er, milchübergossen,
zitternd, während die Wände um uns einstürzten.
Der Blinde wollte sie nicht reparieren.
Also fragte ich ihn wegen seiner Hände
aber er sagte er habe jetzt einen Gips
und wenn ich es wirklich wissen wolle
sollte ich einfach in meinem Privatleben schauen.

Behäbig trank ich meinen Notfallwhisky.
Er lachte während dieser mir aus den Ohren fiel
und dann in meine Nase schlüpfte.
Ich fiel zu Boden mit rotierendem Kopf
wie ein Riesenrad vor Sonnenuntergang.

Als ich so dalag zeigte er auf einen riesigen
Finger und er sagte ich weiß wer
du bist und um deine gierigen Lügen.
Die Versuche, die du unternimmst, um dich
interessant
zu machen,
was du nie sein wirst.

Aber es ist mir egal.
Ich habe einen neue Geschichte zu erzählen,
all diese Klatschsüchtigen
deren Leben du zerstört hast
indem du meines zu einem Rauchvorhang gemacht hast.

Ich werde ihnen mit meiner bleiernen Sonnenbrille
und einem Schlauch in meiner Lunge sagen,
dass ich Jahre gebraucht habe um herauszufinden dass
mein Bruder Einzelkind ist.


Original von Michael Black
Übersetzung von mir



Notiz: Das Gedicht ist tatsächlich eine Übersetzung eines Textes meines Freundes Michael. Die Kurzgeschichte dazu hat nichts, aber auch rein gar nichts mit ihm als Person oder mit unserem Verhältnis im echten Leben zu tun und existiert nur in Wortwelten.

Dienstag, 8. März 2011

Die Wortgrenze

Die Wortgrenze in mir ist eine semipermeable Membran. Sie teilt mich vertikal durch die Mitte.


My left side is stiff like an old lady’s frown

and as swift as a fish in a tank.

My left side is still wearing too tight a gown


with pistols at belt and at hand.


Words aimlessly darting in foreign storms.


Words shamelessly daring intimate norms.
Die Rechte ist schwer und geladen.

Beschlagen mit Echtgold:

Gewehr und gepanzerte Brust.

Bewusst voll von ganz andern Werten.



Worte müde Löwenjungen spielen in der Glut.

Worte rüde Jägerlungen gurgeln blaues Blut.


Sie laufen Hand in Hand, diese Seiten, und manchmal grinsen sie sich verschwörerisch zu. Doch wenn in the street of the sky night walks scattering poems (E. E. Cummings, the poems to come…, 10) and we will in den Sprachen beten, die wie Harfen eingeschnitten sind (E. Lasker-Schüler, Meine Wunder, Versöhnung) –

vor allem dann, wenn mein Körper is with your body. It is so quite a new thing. Muscles better and nerves more. (E. E. Cummings, the poems to come…, 15) –

and in particular when you are dunkel vor Gold – auf deinem Antlitz erwachen die Nächte der Liebenden. (E. Lasker-Schüler, Meine Wunder, Kete Parsenow) –

immer dann biegt und ächzt die Membran unter dem Druck der wilden Worte und die Wortgrenze zittert im offenen Feuer fliegender Patronen. (Und ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube manchmal stirbt sie sogar einen petite mort.)


Freitag, 4. März 2011

Von den Nächten

Sie schrie als sie sich das kochende Wasser mit zitternden Händen schwungvoll von der Tasse mit Instantkaffeepulver über die Küchentheke und auf den Fuß goss. Schnell hielt sie sich selbst den Mund zu, stellte den Wasserkocher ab und sprang auf einem Bein zur Spüle, schwang das andere Bein in das Waschbecken und ließ sich kaltes Wasser über den Fuß laufen ohne den Strumpf auszuziehen. Schwankend hielt sie sich eine Weile an der Küchenplatte fest und murmelte: „Das Gute ist: es tut erst morgen weh.“ Sie grinste in die dunkle Küche.

Tatsächlich spürte sie nur noch ein leises taubes Kribbeln im Fuß als sie das Wasser abdrehte, ihre halbleere Weinflasche griff und einen tiefen Schluck nahm. Besorgt überlegte sie ob ihr Schrei wohl ihre Mitbewohner aufgeweckt hatte, dann verlor sie den Gedanken über ein weitaus wichtigeres Problem: ihre randvolle Tasse wässrigen Kaffees.
Sie seufzte, goss vorsichtig ein wenig der braunen Flüssigkeit in den Ausguss und rührte zwei Extralöffel Kaffeepulver ein. „Just for good measure.“

Sie stolperte mit Kaffee und Wein bewaffnet und feuchte Fußabdrücke auf dem Parkettboden hinterlassend ins Wohnzimmer, wo ihr Laptop wartete. Er zeigte ein geöffnetes Word Dokument und 05:23 Uhr. Sie hatte keine Ahnung wo die letzten drei oder vier Stunden geblieben waren. Im Grunde genommen hatte sie keine Ahnung wo die letzten drei oder vier Nächte geblieben waren. Sie vermutete einen Zusammenhang zwischen den beiden weißen Flecken in ihrer Erinnerung und machte sich eine Notiz auf den Handrücken, die sie daran erinnern sollte der Sache nachzugehen sobald sie den Essay fertig geschrieben, abgegeben und endlich einmal wieder geschlafen hatte.

Sie nahm einen tiefen Schluck Kaffee und verbrannte sich die Lippen. (Das Gute ist: es tut erst morgen weh.) „Es wurde gezeigt, dass die Ästhetik der Schlaflosigkeit für Nietzsche…“ begann sie ihre Zusammenfassung. Das regelmäßige Klicken der Tastatur sollte für die nächsten paar Stunden das einzige Geräusch in der sich langsam erhellenden Wohnung bleiben.
Sie hatte ihre Mitbewohner nicht aufgeweckt.

(Sie fanden sie gegen Nachmittag auf dem Sofa. Ihr Laptop zeigte das online eingereichte Dokument, das volle Punktzahl und eine hervorragende Rezension bekommen sollte, und 16:23 Uhr. Dort, wo ihre Füße lagen, waren blassbraune Flecken auf der hellen Couch und auf ihrem Handrücken stand: „Zeit finden“.)


Die Nächte sind geschmolzen,
sie schwappen schwarz über Tassenränder
während ich Treppen steige.
Sie schmecken natürlich bitter.

Aber das geht schon, mit etwas Milch
fällt mir das Schlucken leichter und
es sieht schon fast aus wie Tag oder zumindest
Zwielicht.

Schwarze Meere, die ich verschütte
oder trinke und verdaue, voller
unbekannter Lichter und schleimiger Häute,
die meine Füße streifen.

Ich bin ein guter Schwimmer.
Ich bin ein noch besserer Trinker.
Das geht schon, mit etwas Mut
und überhaupt sieht es schon fast aus wie -
also diese ganze Sache mit den Nächten und
dem Kaffee und dem Meer, das sieht fast aus wie
ein Spiegel, der mir andere Menschen zeigt,
immer und immer wieder.

Mittwoch, 23. Februar 2011

wir fallen

(Alternative Titel:
Facebook oder Als ich eines Tages plötzlich in der Zeitung war.)



wir alle fallen in
Masken und Wesen und
hasten durch Leben durch
Straßen und Gassen
und lassen
es stets beim Gewesen

und sind wir mal ehrlich:
wir lesen
uns andere Alle

wir schreiben
allen ja wirklich ja ehrlich wir fallen
in Masken und Wesen und

wenn die letzte Maske fällt

-

wenn die letzte Maske
fällt

-

Montag, 21. Februar 2011

Parce que moi, je rêve. Moi, je ne suis pas.

In die Leere ihres Lebens warf sie einen Film. Für fast zwei Stunden war sie so atemlos wie während einer ihrer Albträume.
(Was sie nicht wusste: sie spannte sogar dieselben Muskeln an, die auch während ihrer Albträume zitterten. Wäre er noch da gewesen wäre er bestimmt erschrocken sie so auf dem Bett liegen zu sehen, in verkrampfter Embryohaltung, mit ineinander verkrallten Händen, Schweiß auf dem schmerzverzerrten Gesicht, knirschenden Zähnen – und offenen Augen.
Doch er war nicht mehr da. Und so wusste niemand, dass sie sogar dieselben Muskeln anspannte, die auch während ihrer Albträume zitterten. Und niemand erschrak.)

Sie spielte mit dem Gedanken, mit diesem Freund zu schlafen, aber sie hatte seine Freundin inzwischen viel zu lieb gewonnen und war ohnedies zu müde die Wohnung zu verlassen oder irgendwen dazu zu bringen, nach dem Sex ihre Wohnung zu verlassen. Es war ihr rätselhaft, warum irgendwer nach lieblosem Sex über Nacht bleiben wollen könnte.
(Was sie nicht wusste: manche Menschen haben keine Albträume, die ihre Muskeln zittern und ihre Zähne knirschen lassen. Manche Menschen erschrecken nicht sondern schlafen geradezu besser, wenn sie menschliche Wärme neben sich spüren.
Manche Menschen schlafen einfach manchmal.)

Dann spielte sie mit dem Gedanken ihn zu googeln, aber sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wie man die Liste der Suchbegriffe löscht und zwischen zwei trockenen Schluchzern war sie einfach zu müde diesen Kniff zu lernen.
(Manchmal wäre sie gerne einer dieser Menschen, die einfach schlafen.)

Sie wollte irgendwen kontaktieren, mit dem sie nicht schlafen wollte, doch sie wusste, wie stumm sie war. Und so griff sie zu einem Stift.

Et j’irai me reposer, la tête entre deux mots, dans l'avalée des avalés.

Parce que moi, je rêve. Moi, je ne suis pas.


Bis zu dem Punkt,
an dem der Kaffee dir auch noch
den letzten Traum entrissen hat,
unbewohnte Frau.

Nicht dass du sie misst,
diese Träume
voller brauner Gerüche und scharfer Farben,
voller spitzer Organe und roher Schreie,
doch irgendwie füllten sie dich,

erfüllten einen Raum,
fühlten deinen Kopf
aus, bedächtig jeden Zentimeter messend,
maßgeschneiderte Angst.

Ein Gefühl so groß
dass es dich weitete bis
die Herznähte krachten.
Der leere Raum also noch größer.

Echos alter Leben
tanzen nun in dir
und sie führen und verirren dich,
unbewohnte Frau.

« Parce que moi, je rêve. Moi, je ne suis pas. »

Montag, 14. Februar 2011

Selbstauslöser

Für Amelie zum Valentinstag. Ohne jeglichen inzestuösen Hintergedanken. Und ohne jegliche Idee, wie sie ihre Fotos tatsächlich macht.


Sie betrachtet den Ausschnitt ihres Zimmers durch die Kameralinse: die hohen, lichtdurchfluteten Fenster, die weißen Vorhänge, die die Sonnenstrahlen wie Insekten fangen und einsperren, die feinen eisernen Gitterstäbe des leeren Vogelkäfigs, der an der Gardinenstange hängt und ihr als Schmuckständer dient.

Genüsslich streicht sie sich die inzwischen wieder dunkleren, leicht gelockten kinnlangen Haare aus dem Gesicht (aber nie zu weit). Sie trägt etwas mehr Lippenstift auf (aber nie zu viel).
Sie tritt vor die Kamera, stellt sich in ihren Lichtkäfig und drückt den Selbstauslöser. In zehn Sekunden wird sie alles, was sie jemals sein wollte.

Le fabuleux destin d'Amélie.


Kein Auge
stellt dich, hält dich, dreht dich
weltlich um dich selbst. Nicht
einmal eine Braue runzelt Stirnenschauer
über deinen nackten Nacken.

Dein Auge
schält, vermählt und quält dich:
kleiner reiner Tod.
Ein einziger reiner Moment.
Du wählst dich.

Erzählst dich
dem Auge der Welt.

Die, verklärt, staunt und staunt.

Mittwoch, 9. Februar 2011

Vom Trösten

Sie waren erst einmal zusammen ausgegangen, aus Versehen.

In der Nacht waren sie beide in ihre Stammkneipe gegangen, weil sie vergessen hatten, dass sie den Abend davor kollektiv beschlossen hatten, eine neue Bar auszuprobieren. (Fail.)
Was folgte war ein vorgezogenes und überaus unangenehmes erstes Date, eigentlich waren sie nämlich ohnehin zu zweit für die nächsten Abend verabredet gewesen. (Utter fail.)
Als sie nach einer halben bis dreiviertel Stunde per SMS versuchten, die Situation aufzuklären, beschlossen ihre Freunde sie bei ihrem Date (das zu diesem Zeitpunkt noch informell unter „Treffen“ lief) am darauffolgenden Abend zu treffen. (Ultimate fail.)

So wurde ihr erstes geplantes Date also um 8 Personen bereichert.
Sie gingen doch wieder in ihre Stammkneipe und alles deutete darauf hin, dass dies ein weiteres Glied in der Reihe undefinierbarer und uniformer Nächte wurde, nur vielleicht etwas unangenehmer.
„The more the merrier my arse“ sagte sie grinsend zu ihm. Er war Amerikaner und ihre auf Anhieb gute Verbindung basierte hauptsächlich auf ihren hervorragenden Englischkenntnissen und seiner hervorstechenden Attraktivität. Hinzu kam eine beiderseitige Alternativlosigkeit, bedingt dadurch dass er erst vor zwei Wochen in Deutschland angekommen war und noch kein Wort Deutsch sprach oder Menschen kannte, an denen er es ausprobieren konnte, sowie durch die Tatsache, dass sie mit Siebenmeilenstiefeln auf den Jahrestag ihrer Durststrecke zulief und nächste Woche ihre Tage bekommen würde.

Was so vielversprechend einfach begonnen hatte entwickelte sich innerhalb weniger Stunden zu einer Sackgasse. Er war verschlossen an diesem Abend, geradezu unfreundlich, und nicht nur zu ihr. Trotzdem war er der erste, der bei der Suche nach einem geeigneten Ziel für ein Woandershinwalking seine Wohnung anbot. Alle gingen, alle bereuten.
Sie sahen Forgetting Sarah Marshall und The Hangover (die Reihenfolge ist bis heute noch strittig). Sie gähnten verhalten. Sie gingen.
Bis auf sie. Er bat sie zu bleiben. Sie blieb. Er erzählte ihr was vorgefallen war während sie ihn hielt. Sie waren beide selten so allein gewesen.

Sie beendete an diesem Abend ihre Durststrecke vor dem Jahrestag, doch sie verließ seine Wohnung hungrig. Er würde sich nie bei ihr bedanken oder entschuldigen.

Im Grunde würden sie überhaupt nicht mehr sprechen.


Nachdem alle gegangen waren
blieb sie, gefesselt von seinen hilflosen Blicken,
gehalten von seinen haltlosen Händen.

So verbrachten sie die Nacht
in seinem Schmerz.

Für sie: ein fremdes Meer, das über sie spült.
Für ihn: die Welt, in der (vielleicht) eine Boje schwimmt.

Sie füllte den undefinierten Raum
mit Worten wie mit Sandkörnern
um einen Boden zu legen,
auf dem er sie nehmen konnte.

Er füllte den neu definierten Raum
mit Küssen wie mit Möwenschreien
um einen Grund zu geben,
doch da war kein Platz für Zärtlichkeit.

Die Wut schwamm in seinen Augen
und etwas Angst vor dieser Fremden,
deren Kopf er mit einer Hand festhielt.

Nach Stunden
wusch sie sich
und verließ seine Welt
mit schmerzenden Gliedern
und leeren Händen.

Der Heimweg war lang und dunkel
und der Sand zog ihr noch lange den Boden unter den Füßen weg.

Samstag, 5. Februar 2011

Seekrank



Der Alkohol öffnet ihre Pupillen wie Türen. Jedes Mal, wenn er sie betrunken sieht, ist es wie an diesem ersten Abend bei ihm zuhause, als sie völlig unerwartet zu seiner Einweihungsparty auftauchte und ihn und seine Freunde im Sturm eroberte. Er kannte sie nur aus einem seiner Kurse, als hübsches, stilles, sehr kluges – nun, hauptsächlich aber hübsches Mädchen. Daher die Einladung. Warum sie auftauchte, weiß er bis heute nicht. Er weiß nur, dass er froh ist. Dass er sie mag.

Am liebsten mag er sie, wenn sie ihre kühle Gelassenheit fallen lässt, ihren Gesprächspartner mit Blicken aufspießt und laut und eindringlich ihr Meinung zu irgendetwas darlegt, dabei Worte durch den Raum schleudert mit Händen und Füßen. Und immer dieses Lächeln, das ihr bei solchen Diskussionen aufs Gesicht gemalt scheint und das es dem Gegenüber fast immer unmöglich macht, zu widersprechen. Nicht, dass es oft etwas zu widersprechen gäbe, ihre Argumente sind stets durchdacht, ihre Ansichten vorsichtig abgewogen und nie tatsächlich extrem.

Solche Momente sind selten, man muss das richtige Thema treffen und das ist bei ihr schwer zu erraten. Sonst ist sie still und so in sich versunken, so abgeschlossen, dass sie oft für schüchtern oder arrogant gehalten wird. Vielleicht ist sie das. Vielleicht verwirrt die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkt, ihn darum so sehr: weil sie von einem Vertrauen zeugt und eine Anerkennung darstellt, die er seines Wissens mit nichts gerechtfertigt oder ermutigt hat.

Doch andererseits scheint es nur natürlich, dass sich zwei Fremde in einer Großstadt aneinander festhalten. Zwar kommen sie nicht aus derselben Stadt, doch beide sind aus dem Süden und irren nun zwischen Kanälen und nördlichem Meerwind.
Alkohol hilft dabei, sie zu öffnen. So kam es wohl dazu, dass sie sich vor Weihnachten einmal etwas heftiger an ihm festhielt, als es für seine Beziehung angemessen war. Das sagte er damals auch indem er sie von sich schob, zitternd vor Angst, sie könne widersprechen. Er wusste, dass er dem nichts entgegenzusetzen hätte. Doch seine Sorge war unbegründet, sie lächelte nur und strich ihm über die Wange. Er spürte diese Berührung noch lange, nachdem sie gegangen war, lange nachdem sie beide über die Weihnachtsferien nach Hause gefahren waren, lange, nachdem er dort seine Freundin verlassen hatte.

Und nun sitzen sie also wieder in seiner Wohnung, zurück an ihrem angestammten Platz auf dem Boden, direkt an der Heizung, die täglich einen tapferen Kampf gegen die nordische Kälte austrägt. Ihre Pupillen: geöffnete Türen. Er fasst Mut und erzählt von der Trennung.

Ihr Lächeln blitzt auf doch irgendetwas in ihr fällt zu. Steif erklärt sie, wie gut sie es finde, dass sie beide so vernünftig gehandelt haben und so erwachsen mit der Situation umgehen. Wie ironisch es sei, dass Fernbeziehungen durch moderne Kommunikationsmöglichkeiten nicht leichter, sondern schwieriger werden. Wer denn heute noch die Gänsehaut kenne, die das Geräusch eines aufreißenden Briefumschlags auslöst. Dabei klammert sie sich immer fester an den Heizkörper.

Ob ihr kalt sei, unterbricht er sie vorsichtig. Sie verstummt, nickt, die linke Wange an die Heizung gepresst, die Arme um die Knie geschlungen. Er holt eine Decke.
Legt sie ihr um die Schultern. Er erschauert, wie damals, als er sie wegdrückte. Weil er sie heute an sich drücken will. Er lässt die Decke nicht los, sie nimmt die Decke nicht, verharrt in ihrer kauernden Haltung, er auf Knien vor ihr, die zitternden Hände noch immer auf ihren Schultern. Langsam, fast ängstlich, hebt sie den Kopf und sieht ihn an. Ihre linke Wange, die am Heizkörper lag, ist gerötet. Er gibt auf.

Fast grob reißt er sie mitsamt der Decke zu sich und küsst sie. Sie wehrt sich nicht. Erwidert den Kuss. Lässt sich von ihm zu Boden ziehen, wird von ihm begraben, taucht wieder auf, verharrt über ihm. Er liegt auf dem Rücken und sieht ihr Gesicht über sich, eingerahmt von den langen Haaren, die wie ein Vorhang um sein Gesicht herum auf dem Boden liegen und die Welt außerhalb ihrer beiden Köpfe aussperren. Und ihre Augen, ihre Augen sperren ihn aus.

Verwirrt fragt er sie, was los sei. Das Lächeln, zärtlich und einnehmend, blitzt auf. Sie sei gerne für ihn da, auch physisch, doch sie habe Angst, dass das mehr schaden als helfen würde. Er erkenne doch auch, wie gefährlich es sei, einen solchen Schritt in der aktuellen Situation, vor allem in der seinen, zu unternehmen. Die emotionale Wirkung von Sex werde in der heutigen Gesellschaft deutlich unterschätzt. Nicht, dass sie das bisher Geschehene bereue, das sei sicher nötig gewesen, doch genauso nötig sei es abzuwägen, wann man gehen muss. Und das sei für sie jetzt.
Er widerspricht nicht. Während sie ihren Mantel anzieht bestätigt er ihr verwirrt und ernüchtert, wie recht sie doch habe und wie gut, dass sie das so ausgesprochen hat. Dankbar empfängt er jedes ermutigende Lächeln und Nicken, das sie ihm schenkt.
Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen ist legt er sich die Decke um die Schultern, setzt sich auf den Boden und presst die linke Wange an den Heizkörper.


Weinstürme, wilde.
Wir taumeln, wir schreien,
verzeihen der Welt, werden milde.

Umarmungen, grobe.
Wir packen, wir beißen,
zerreißen das Segel, das hohe.

Kehrtwende, wirre.
Wir sehen, verstehen,
entgehen dem Schiffbruch. Der irre
Kurs schnell berichtigt.
Verdächtige Ruhe nach dem Sturm.

Tauben fliegen, kommen nicht zurück.
Vielleicht gelandet, vielleicht ertrunken.