Die Plätze sind gut, zweifelsohne. Erste Reihe, direkt vor
der Bühne. Würde ich mich aus dem schmalen blassgrünen Plastikstuhl erheben und
einen langen Schritt nach vorne wagen, könnte ich die Tennisschuhe des
Schauspielers anfassen.
Ich tue nichts dergleichen.
Ich betrachte das Geschehen auf der Bühne und versuche zu
verstehen. Das Stück scheint seltsam vertraut, nicht wie etwas, das ich schon
einmal gesehen habe, sondern eher wie etwas, von dem mir erzählt wurde oder von
dem ich gelesen habe. Es stört mich, dass ich nicht weiß, was für ein Stück es
ist; nicht nur, weil ich keine Ahnung habe wie lang ich schon hier bin und
warum und was hier überhaupt ist. Es
stört mich so wie es mich immer stört, wenn ich mich nicht daran erinnern kann,
wie ein bestimmter Schauspieler heißt oder in welchem Film er war. Das
Programmheft in meiner Hand, das ich erst jetzt bemerke, erlöst mich: Infinite
Jest. Unendlicher Spaß. Nun betritt auch Madame Psychosis die Bühne, durch die
ich das Stück sofort erkannt hätte, aber vermutlich betritt sie die Bühne eher weil ich das Stück endlich erkannt habe.
Die Plätze sind nicht wirklich mittig sondern ziemlich weit
rechts, vielleicht gar nicht so gut, wie ich anfangs dachte. Ich kann nicht
sagen, wie weit rechts wir uns befinden, denn wenn ich den Kopf vorsichtig nach
rechts drehe, sehe ich fast nur Schatten: gerade so kann ich den Kopf und
Oberkörper eines dunkelhaarigen, dünnen Mannes ausmachen, der vielleicht einen schmalen
Schnurrbart trägt und der scheinbar gefesselt ist vom Geschehen auf der Bühne –
ich kann seine Augen nicht erkennen aber er bewegt sich nicht. Hinter ihm wird
es so dunkel, dass ich mich fragen muss, ob das Publikum absichtlich so
ausgeleuchtet wurde und wenn ja, welche Rolle es in diesem Stück spielt.
Warum denke ich ständig an "Plätze", Plural? Ich bin nicht allein hier. Ich habe plötzlich Angst, nach links zu schauen. Vielleicht
nicht wirklich Angst sondern eher Nervosität. Vorfreude?
Im Gegensatz zu der statischen, düsteren und unnahbaren
Puppe zu meiner Rechten ist jemand links neben mir, das fühle ich. Mein linkes
Bein berührt sein rechtes, ich kann den rauen Stoff seiner ausgewaschenen
hellen Jeans durch meine schwarze Strumpfhose hindurch fühlen. Meine freie
Hand, die kein Programmheft hält, liegt auf meinem Bein knapp unterhalb des
Knies, die meines Sitznachbarn ebenfalls. Sein Bein ist etwas länger, sodass
meine Seite wie ein geschrumpftes, verzerrtes Spiegelbild aussieht. Meine
Zeige- und Mittelfinger berühren seinen kleinen- und Ringfinger.
Ich versuche ihn unauffällig von der Seite anzusehen, doch
er dreht sofort den Kopf, lächelt und flüstert einen verschwörerischen
Kommentar über das Stück, den ich leider nicht verstehe. Sein Gesicht ist so
vertraut wie das eines Freundes und ich kann es schneller zuordnen als das
Stück, doch ich kann es nicht glauben.
Der Dreitagebart sowie die schulterlangen braunen Haare sind
durchzogen von vereinzelten grauen Strähnen, die sein Haar heller erscheinen
lassen, als es ist. Die Augen dafür umso dunkler, eingefasst in ein perfektes
Oval von Braungrau.
Es ist das Jahr 2005 und ich sitze in einer englischen
Inszenierung von Infinite Jest mit
David Foster Wallace, dem Autor des Romans.
Soweit ich weiß gibt es selbst in 2012 noch keine englische
Theaterfassung von Infinite Jest und
auch die deutsche Version kann kaum älter sein als 2011.
David Foster Wallace sagt schon wieder etwas, das ich nicht
verstehe, und ohne es auch nur zu versuchen weiß ich, dass ich nichts antworten
kann. Obwohl ich keine Worte ausmachen kann höre ich doch die Sanftheit, die
kaum merklichen Hebungen und Senkungen, die Ruhe, die in seiner Stimme – die seine Stimme ist.
Ich starre ihn nun wirklich an, ungehemmt, die Bühne ist
vergessen, es scheint ihn nicht zu stören. Er lächelt. Kurzzeitig verschwimmt
sein Gesicht und seine Haare und sein Bart werden heller, silbern, und er ist
nun jemand, den ich tatsächlich kenne und der wichtig für mich ist, doch bevor
ich diesen anderen Mann fassen kann ist er schon wieder David Foster Wallace,
lächelnd, sanft.
Ich höre seinem singenden Flüstern zu, ohne zu verstehen,
ohne etwas erwidern zu können, und ich betrachte Madame Psychosis auf der
Bühne, die ich so gut verstehe und die ununterbrochen „Sixty Minutes More Or
Less With Madame Psychosis“ haucht und plötzlich verstehe ich, was mich
erwartet, besser noch was ihn erwartet,
ich verstehe alles bis ins letzte Detail, bis in die letzte Sekunde, und ich
winde mich, und ich fühle mich weinen, nicht in diesem Traum sondern im Schlaf,
denn ich weiß, dass ich nun hier sitzen muss, (Sixty Minutes More Or Less?),
neben diesem Mann, den ich so verehre, ohne ihn zu kennen, sein unendliches
Theaterstück verfolgend, stumm und taub, wissend, dass er sich in drei Jahren,
in 2008, umbringen wird, und ich kann nichts tun.
Es ist 2012 und David Foster Wallace, der dieses Jahr 50 Jahre
alt geworden wäre, hat sich vor vier Jahren umgebracht. Als ich aufwachte war mein Kissen feucht.
Du kannst immer, immer, immer
nur in die Zukunft reisen.
Du tust es mit jedem
Atemzug,
Wort,
Satz,
den du beendest.
Die Vergangenheiten,
deine
und die, die du stiehlst,
reisen mit dir.
Die Zeit ist ein Meer
und der Bug deines Schiffes
teilt es
in Vergangenheit und Zukunft,
und du treibst dazwischen,
doch es ist alles Wasser,
und selbst dieses Bild
ist nicht meines,
sondern das einer Frau,
die in meiner Vergangenheit einmal
mit mir sprach,
und in deren Vergangenheit ich
sicher nicht auftauche;
die nicht weiß, wer ich bin.