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Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

Alles, was hier beschrieben wird, ist wahr. (In deinem Kopf.)



Sonntag, 6. November 2011

Das Unheimliche



Weinend und klagend hievt die Weiße ihre bleichen zitternden Speckschwarten auf die rote Chaiselongue und lehnt sich zurück. Ihre Leibesmassen quellen zu beiden Seiten über das Möbel und hängen träge zu Boden, erschüttert von ihren Schluchzern. Sie sieht aus wie ein überkochender Topf Milch.


Die Person, deren Praxis sie nebst anderen unglücklichen (und auffällig häufig unattraktiven) Patienten besucht, wird von allen nur „das Perspektiv“ genannt. Tatsächlich kennt niemand den richtigen Namen doch das ist auch nicht wichtig, denn sein Ruf eilt dem Perspektiv weit voraus und somit bedarf es keiner Visitenkarten oder Praxisschilder. Es gilt weit und breit als der beste Unheimlichkeitsjäger. Nicht, weil es tatsächlich jemals irgendeine Art von Erfolg verbucht und etwas Unheimliches gefangen und erlegt hätte, sondern schlichtweg, weil es niemand anderen gibt, der diesen Service anbietet.
Jeder, der von etwas Unheimlichem geplagt wird, kann zu ihm gehen und mit ihm jagen. Es ist nicht billig, aber die Nachfrage ist trotzdem so hoch, dass es eine Warteliste von einem ganzen Jahr hat. Nach drei Jahren wird die Behandlung automatisch beendet (denn eine tatsächliche Heilung tritt nie ein) und die Patienten entlassen in eine Welt voller Grusel, dessen sie dann allein Herr werden müssen.
Viele begehen danach Selbstmord, manche lassen sich einweisen. Es findet sich jedes Jahr wieder einer, der glaubt, den Grusel besiegt zu haben, und auszieht, das Fürchten neu zu lernen. Keiner von denen ist jemals zurückgekommen.
Trotz dieser objektiv betrachtet eher negativen Bilanz läuft die Praxis seit 89 Jahren hervorragend.


Die Weiße schreit und weint also und berichtet von Träumen, in denen sie eine fette Maus ist, die vor einer Mausefalle sitzt auf der sich Sahnetorten, Käse und Butter türmen. Wissend, dass sie Falle zuschnappen wird, sitzt sie dort und wird langsam schlank, dünn, mager und verhungert. Jeden Morgen wacht sie hungrig auf und isst Sahnetorte, Käse und Butter.
Das Perspektiv starrt sie durch seine Steinaugen an und fragt: „Warum?“
Das Perspektiv sagt nie irgendwas in den Sitzungen außer „Warum?“ und „Hmm.“


Sie erklärt, dass die als Kind panische Angst hatte, ihr Vater könnte den Job verlieren, und dass das vielleicht damit zusammen hängen könnte.
„Hmm.“


Oder damit, dass sie sich oft fragte, ob ihre Schwester, deren Rehbeine sie immer begehrt und deren Spinnenhände sie immer angewidert hatten, wohl inzwischen gestorben war und nun in ihren weichen weißen Körpermassen wohne.
„Warum?“


Ich könnte dir mehr von dieser Sitzung erzählen aber ich vermute, du verstehst schon. Schließlich stehst du nicht auf der Warteliste des Perspektivs.
Nächstes Jahr feiert die Praxis ihr 90jähriges Jubiläum. Unter uns gesagt, das Perspektiv ist müde und möchte die Praxis an mich übergeben. Ich selbst ekele mich ein wenig vor dem Großteil der Patienten.
Außerdem würde ich die Methode ändern. Ich finde, „warum?“ ist die falsche Frage.




Lass immer eine Lücke,
dort wo Sinn ist.
Reiß nieder jede Brücke,
die die Kluft frisst.


Fülle deine leere Hülle
nicht mit altem schlichten
Dingen. Nur mit Ringen
oder Ketten. Woher
nehmen und nicht sehnen?
Alles ist in dir.


Drum sammle alle Stücke
der Warum-Frist.
Und bau dir Mosaike
.