Mittwoch, 26. Dezember 2012
Warum Menschen, die in der U-Bahn nur eine Tür aufmachen, in die Hölle kommen
(und andere Wutwecker)
Eine objektiv junge Frau mit wirren langen blonden Haaren schreitet, Kamm gezückt, auf die U-Bahn zu. Ihre tief sitzenden, umschatteten (daher subjektiv nicht mehr ganz so jungen) dunklen Augen starren konzentriert – sie weiß um die Wichtigkeit des Moments. Die ohnehin schon schmalen Lippen zu einer einzigen langen (subjektiv alten) Falte zusammengekniffen schwenkt sie die Rechte, in der sie den Kamm wie ein Zepter umklammert hält, kurz in die Luft, um mit der Linken die Tat zu vollbringen.
Der U-Bahntürgriff empfängt sie kühl. Ein hohes Rechteck aus matt glänzendem Metall, das sich sanft in die Wölbung eines kleineren Recktecks neigt, in welchem der lange, schlanke Türgriff liegt. Nach unten hin auslaufend, so um einen Mittelpunkt spielend, ist er wie ein Uhrzeiger, der stets nur die volle Stunde oder zehn vor anzeigt. Achsensymmetrisch gespiegelt: sein Zwilling zehn-nach.
Die Frau legt die linken Zeige- und Mittelfinger seitlich an die kühle, weniger als einen Zentimeter starke Metallplatte. Der Daumen legt mühelos den Griff auf zehn-vor, die linke Tür springt zischend auf, und das war der Startschuss.
Für sie: mit einem langen, erhabenen Schritt in die U-Bahn zu steigen.
Für alle anderen, die ursprünglich vorhatten, diese Schwelle in die eine oder in die andere Richtung zu überschreiten: verwirrt und aufgeschreckt die Augen zu rollen, Hände nach dem rechten Türgriff zu strecken, unruhig bald nach links, bald nach rechts zu schwenken, die traditionell schwierige Frage des ein- und aussteigen Lassens neu aufzurollen.
Für mich, die ich nichts mit dieser Szene zu tun habe außer zu beobachten und zu bewerten: der Wutwecker. Schrill und unerbittlich. Er weckt Tote auf.
Menschen, die in der U-Bahn nur eine Tür aufmachen, kommen in die Hölle.
Die Geschichte der mittelalten Frau geht natürlich weiter, aber ich finde meine Protagonistin jetzt bereits zu unsympathisch, um die detaillierte Erzählung fortzuführen, daher füge ich nur hinzu: selbiges gilt für Menschen, die in der Öffentlichkeit Haare kämmen, sich schminken oder gar Parfum auflegen.
Menschen, die auf dem Fahrradweg gehen (und keine Touristen sind). Menschen, die zu zweit (oder gar allein) den gesamten Gehweg einnehmen. Die Krone der Gehwegwutwecker: Menschen, die ihren Hund an der Leine führen und ihm erlauben, den Fahrradweg zu überqueren (einfach bildlich vorstellen). Menschen, die schnippen, um die Aufmerksamkeit der Bedienung auf sich zu lenken. Die Produzenten und Designer (Träger gibt es glaube ich keine) ärmelloser Rollkragenpullover. Menschen, die im Kino klatschen. Die auf der Rolltreppe links stehen. Von der Autobahnspuren und Schwimmbahnaufteilung ganz zu schweigen.
Tom Waits ist der Ansicht, dass alles sowieso in der Hölle endet. Frauen, die heulen, Händler, die schwören, Diebe, die bezahlen wollen, Anwälte, die Mitleid heucheln. Ich wünsche mir, dass er damit nicht Recht hat. Gerne würde ich mir eine Nachwelt mit all diesen Charakteren sowie seinem Gun Street Girl, seinen Rain Dogs, Alice und einem Jockey full of burbon teilen.
Aber wenn ich mir vorstelle, den Rest der Ewigkeit eingesperrt mit meinen Wutweckern zu verbringen – da überlege ich mir schon manchmal, vielleicht mit weniger verheirateten Männern zu schlafen.
Schrei
wenn du musst.
Frust frisst Herzen.
Jene, eisern, scherzen:
Das geht auch vorbei.
Der Mund hat sich am Lächeln
wundgetragen. Unter Schmerzen
streckt und dehnt und reckt er sich,
schmeckt die Laute, leckt die Stärke,
reißt die Seele aus der Kehle,
setzt sie frei:
Schrei
wenn du kannst.
Dienstag, 20. November 2012
Von den Sinnen
Die nächtliche Straße erscheint gleißend hell: das notorisch
flackernde Licht der vereinzelten Straßenlaternen tanzt über den Schnee, umarmt
die Menschen, erklimmt die hohen Häuserwände und springt in den Himmel.
Ein junger Mann packt ein Mädchen am
schneeballschlachtnassen Mantel und wirft sie in die Luft. Sie schreit, oder
jauchzt, der exquisite Moment des Wendepunkts, dann der Fall, und seine Hände
wenige Zentimeter und viele Stoffschichten über ihren Hüften, und das Geräusch seiner Schuhe im Schnee, die
knirschen, Widerstand brechend, gleiten, sein Körper nun in der Diagonale, und
schräger tiefer weiter, seine Arme beschließen, nicht ihn, sondern sie zu
retten und sie legen sich um ihren Rücken, der Fang plötzlich Umklammerung,
ihre linke Hand in seinem Nacken drückt sie seinen Kopf an ihre Brust, ihre
rechte Hand abgestreckt, den Schlag des Bodens erwartend, ihre Beine winden
sich um seine Hüfte, gerade noch rechtzeitig, und so hält sie ihn beinahe
schwebend, als sie gemeinsam aufprallen:
sie, halb kniend, halb kauernd, und die rechte Hand
abgestützt, er, an ihren Oberkörper geklammert und eingeklemmt zwischen ihren
Schenkeln. Für einen Sekundenbruchteil: ein Bild.
Dann keucht sie, gibt ihn frei, er sinkt in den Schnee, ihr
Arm und ihre Beine geben nach, rutschen nach außen, und sie folgt ihm. So
liegen sie, erschrocken kichernd, schwer atmend, als die anderen zu ihnen
laufen.
Wenige Stunden später, am nächsten Morgen, erwacht sie,
verstört. Es ist kein natürliches Erwachen, sie wird aufgeweckt. Ein Geräusch.
Ein Pochen. Eine Weile lang liegt sie so da und lauscht. Verkaterte
Synästhesie: das Pochen kommt aus ihrem Körper. Es entspringt ihrem linken
Knie, das ungewohnt viel Platz unter ihrer Bettdecke einnimmt. Ein Klangraum,
in dem sich das Blut aufbäumt und überschlägt,
um dann in wilden Wellen in ihren Ohren zu branden. Sie hält ganz still
und spürt dem Rhythmus nach. Sonst fühlt sie gar nichts.
Doch irgendwann muss sie sich bewegen und aufstehen. Schon
in dem Moment, als sie den Oberkörper aufrichtet und abstützt, noch ohne die
Beine zu rühren, wird das Rauschen in einem Donnerschlag begraben. Sie hat ihn
erwartet. Ihr Stöhnen klingt fast wie ein Seufzer.
Sie schält ihr Knie aus Bettdecken und Hosenbeinen. Es sieht
aus wie aufgebläht. Nicht verfärbt, nicht aufgeplatzt. Als könnte sie es
vorsichtig mit einer Nadel anstechen und die Luft würde mit einem müden Pfeifen
entweichen. Noch immer auf dem Bett, mit dem entblößten, geschwollenen Knie,
sucht sie nach anderen Schmerzen. Sie findet: der rechte Handballen, das rechte
Knie, das rechte Sprunggelenk. Doch all diese Akteure überlassen dem
Luftballonknie die Bühne.
Sie ringt mit der Panik, die an Rage grenzt, und die sich
aufbäumt wann auch immer ihr Körper sie im Stich lässt. Ein Kampf, den sie in den letzten Jahren immer öfter
gewonnen hat. Tief atmend überlegt sie sich ihre nächsten Schritte ganz genau.
Sie steht auf, nimmt eine Plastiktüte, humpelt zur Hoteltür, schleppt sich,
noch immer in ihrem Pyjama, die Treppen hinunter. Je länger sie aufrecht steht,
desto lauter schreit ihr Knie. Sie sieht und hört nichts von den Menschen im
Foyer, die sie verwundert anstarren und ihr Hilfe anbieten, geht direkt zur
Eingangstür und beugt sich umständlich zu Boden. Sie füllt die Tüte mit ein
paar Handvoll Schnee und Eis und versucht, die Treppen wieder zu erklimmen. Es
geht langsam.
Zurück im Bett befestigt sie die Eistüte mit Tape an ihrem
Knie. Der Chor der Schmerzen verstummt. Sie rüstet sich für den beißenden
Eisschmerz, der nach einigen Sekunden einsetzen müsste, doch er bleibt aus. Sie
beginnt eine Liste mit Dingen, die sie heute, an ihrem letzten Tag vor der Heimreise,
erledigen muss, und eine sinnvolle Reihenfolge, die ihr unnötige Wege erspart.
Sie macht radikale Abstriche. Das Blut unterhalb des Knies fließt kälter. Alles
andere ist taub.
Sie erledigt all ihre Aufgaben langsam und mühevoll. Es ist
ihr unangenehm, die Eistüte in der Öffentlichkeit neu aufzufüllen, wenn der
Inhalt geschmolzen ist. Vielleicht hört ja irgendwer ihre Schmerzen. Am frühen
Abend sinkt sie in ihr Bett, das Knie hochgelegt, matt und wehrlos den
Geschichten lauschend, die ihr Blut ihr erzählt.
Die Zugfahrt und der Flug am nächsten Tag sind am schlimmsten.
Wegen des Gepäcks, wegen der Menschen, wegen des Mangels an Schnee, wegen der
Kraft und Agilität und Lautstärke des Wesens, das sich in ihrem Knie
eingerichtet hat.
Zuhause angekommen hätte sie endlich Coolpacks, stellt aber
fest, dass Eis effektiver ist. Sie fragt sich, ob sie arbeiten kann, und
beschließt: sie kann.
Drei Wochen lang arbeitet sie jeden Tag. Eine abwesend
wirkende, seltsame Gestalt mit schleppendem Gang, ungleichen Beinen, oft
verschwindend, manchmal taub für ihre Umwelt, dabei stoisch und verlässlich.
Ihr Schmerz ist ein Kind, um das sie sich kümmert. Es zieht die Welt dichter
zusammen: alles ist lokal, temporal, in ihr, jetzt. Nur mit Mühe kann sie sich
lösen, sein Wimmern ignorieren, um Listen und Pläne zu machen, um kurz
zurückzublicken auf den Moment des Falls, das Bild, das sie nie sah und das
doch eingebrannt ist in ihren Kopf, dann wird sie zurückgerufen. Menschen, die
nur im Moment existieren, wirken seltsam unpräsent.
Als ihr Job endlich abgeschlossen ist findet sie Zeit, zum
Arzt zu gehen. Dessen Untersuchung und Analyse nimmt sie hin: nicht als
Erklärung für eine Malfunktion, sondern als interessante Erläuterung der
genauen Abläufe eines natürlichen Körpervorgangs. Verdauung, Blutbildung,
Knieschmerzen.
Man könne operieren, aber das sei in dieser Region immer
riskant, und es wäre sicherer, einfach abzuwarten, falls sie die Schmerzen
ertragen könne.
Sie lächelt.
Der Schmerz ist ein einsamer Jäger.
Er flicht seine Beute auf Räder,
die Gräber lässt er dem Geier.
Als unbekannter Vogelfreier
lebt er in den Dingen:
rühr sie, sie erklingen.
Wellen springen, spür sie,
rüste dich und führ sie,
trag den Schmerz in dir
wie ein Kind.
Gebier ihn nie.
Sei kein Jäger.
Anmerkung: Ben, endlich! Ich bin mir nicht sicher, ob es deinen Erwartungen entspricht. Vielleicht ist dieser Stil zu prosaisch für mich. Die Lyrik knabbert unaufhaltsam an allen meinen Buchstabenreihen. Aber es war sehr interessant für mich, ein wenig zu experimentieren und Neues zu wagen. Für die Rezeptidee bin ich dir übrigens sehr dankbar, das steht demnächst sicher auf dem Menü.
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Realismus,
Transparenz
Donnerstag, 8. November 2012
Von der (Un-)Endlichkeit aller Dinge
Ich stehe an einer stark befahrenen Straße. Autos brüllen an
mir vorbei. So dicht, dass ich sie berühren könnte. So dicht, dass sie mich
berühren könnten.
Ich könnte fallen.
Und Vertigo –
Es gibt Momente, in denen ich stocke. Kleben geblieben in
Zeit und Raum, löse ich mich nur mit Mühe. Konturen verschwimmen und verharren,
regungslos, gespannt. Nie fasse ich die Welt so sehr wie in diesen Momenten, da
sie mir entgleitet.
Und sie staunt. Mich an. Ich lasse sie starren wie eine
Geliebte. Schamlos.
Wir entrücken einander. Die Kluft zwischen dem, was ist, und
dem, was bleibt, blitzt auf für Sekundenbruchteile, für Wimpernschläge. Kaum
Zeit genug für ein Herzstolpern, kaum Zeit genug für ein Seufzen.
Die Distanz zwischen mir und den Dingen. Die Erkenntnis,
dass meine Welt ohne mich nichts ist. Die Erkenntnis, dass die Welt mich
trotzdem überdauert.
Das wilde Zerren, schließlich Losreißen, aller Dinge. Die
Spannung, der Schmerz, der Bruch, die Erleichterung. Das Echo in meinem Kopf: „Auch
noch verlieren ist unser.“
Und wenn die Unendlichkeit dort ist, wo Parallelen sich
schneiden, dann ganz ehrlich – dann will ich da auch gar nicht hin.
Oh Schläfer,
die Welt steht auf mit mir.
Sanft atmend ruhen die Dinge bis ich sie wecke.
Verschrecktes Zucken, verklebte Ringe
unter den Augen, erwachen sie mühsam.
Sie gähnen und fletschen die Zähne.
Ein Spiel: wer hält wen an der Leine?
Beine, meine, deine, kreisen wie im Tanz.
Die Welt steht auf mit mir
und Ende glänzt
an allen Bruchstellen meines Misslingens.
ENDLICH!
Ist alles vorbei.
Wer mir sagen kann, auf welchen Text sich das Gedicht am Ende bezieht, gewinnt irgendwas.
Dienstag, 25. September 2012
Your Ship May Be Coming In
Ein Mädchen sitzt gebückt an einem viel zu kleinen
Schreibtisch. Der viel zu kleine Schreibtisch duckt sich unter ein viel zu großes
Fenster, an dessen Seiten zwei viel zu helle Vorhänge in kalten Windstößen, die
den zaghaften Widerstand der viel zu dünnen Scheiben Glasscheiben und
Fensterrahmen durchbrochen haben, tanzen.
Ihr Laptop nimmt fast die gesamte Schreibfläche ein. Sie
sieht absurd riesig aus, wie sie so tief über die Tastatur gebeugt dasitzt. Sie
schreibt und sie zittert und sie schreibt.
Ihre Füße sind nackt. Jedes Mal, wenn sie sie hochzieht, weg
vom blanken Holzboden und auf die Sitzfläche des weiß-grauen Plastikstuhls, schwankt
dieser bedenklich. Es fehlt eine wichtige Schraube an der Rückenlehne, deren
Abwesenheit scheinbar die Gesamtkonstruktion in Gefahr bringt.
Alles an ihr und um sie ist in Bewegung, abgesehen von ihren
statisch verkrümmten Schultern, ihrem steif nach vorne gereckten Nacken und
ihrem verbissen-verspannten, erstarrt-gebannten Gesicht. Diese Körperpartien
sind so völlig regungslos, dass sie nicht einmal mit ihrem restlichen Körper in
den Luftzügen erschauern. Sie beobachtet die Worte, die den weißen Bildschirm
verdunkeln. Ihre Füße in einem ewigen risikoreichen Wechselspiel zwischen Boden
und Stuhl, ihre Finger verzaubert vom rhythmischen Trommeln ihres eigenen
Tippens.
Manchmal zuckt eine ihrer Hände reflexartig zu ihren Beinen
oder ihrem Bauch und sie kratzt brutal, hörbar, für wenige Sekunden über die
weite blaue Stoffhose oder den dunkelgrünen Fleece Pullover knapp unterhalb der
Brüste. Dann verzieht sie kurz den Mund und kneift die Augen zusammen, als
würde sie in die Sonne blicken. Ihren linken Daumen hat sie weit abgestreckt,
selbst beim Tippen. Wenn er trotz aller Vorsichtsmaßnahmen irgendetwas berührt,
holt sie zischend Luft. Und stets nimmt sie einen Schluck aus der braunen
Flasche.
Das Tageslicht, das sich erst mühsam durch die schottischen
Wolken kämpfen musste, um die Szene einzufangen, schwindet. Im künstlichen
Strahlen ihres Laptopbildschirms wirken ihre Augenringe fast schwarz.
Sie hat Augenringe, denen man geradezu ansieht, dass sie Gewicht haben. Du weißt schon, was ich
meine. Diese Art von Augenringen, die wirklich geradezu fühlbar innen am
Tränenkanal und außen am letzten Katzenwinkel des Augenlids aufgehängt sind,
wie eine Hängematte. In die man achtlos alle Wünsche und Zukunft und leeren
Bierflaschen werfen kann, und die sinken und knarzen und sich wiegen und biegen und
die mich doch nicht im Stich lassen – sie halten.
Und mit etwas Kaffee spüre ich selbst in so einer Nacht die
Müdigkeit kaum. Und mit etwas Alkohol kann mich auch der Herbst nicht beißen.
Ich starre die Worte an, die meinen Bildschirm füllen, und bei jedem einzelnen Leerzeichen wandern meine Mundwinkel
für Sekundenbruchteile um Millimeterstückchen nach oben und fallen sofort
wieder. Und meine Gedanken, die sich wie ein Malstrom um meine beiden unabhängigen
und unerklärlichen Hautausschläge sowie den pochenden Daumen, dem ich leider
aus Versehen fast den Nagel abgenommen und dann halbherzig wieder angepflastert
habe, kreisen, lösen sich langsam aus dem Sog und schwimmen, treiben, holen
kurz Luft und tauchen wieder ab, und ich spüre wirklich fast gar nichts mehr,
und so langsam frage ich mich, ob meine Augenlider nicht schon längst unter der
Last nachgegeben haben aber eben einfach inzwischen genauso hell sind wie meine
Vorhänge, und meine Hände, meine Hände, sie lieben ihr eigenes Trommeln so, und
die braune Flasche fühlt sich so glatt und so leicht an, und das ist selten ein
gutes Zeichen, und meine Schulter ist Treibholz, an das sich irgendwer klammert
–
Sie schrickt auf und reißt die trägen trüben Augen auf, als
ihr Mitbewohner sie an der Schulter packt und schüttelt. Er lacht über ihre
Reaktion und stellt ihr eine volle Flasche Bier neben den Laptop. Seufzend
nimmt sie einen tiefen kühlen Schluck. Seine Warnung, nicht mehr zu lange zu
machen heute Nacht, ist Meeresrauschen, und ich stürze mich zurück in die
Fluten.
So lange schon gefangen
im Vergehen.
Vergangenem vergebend,
nie er- und stets nur lebend.
Zu lange schon stehst du zum Sprung geduckt,
verharrt in hauchzarter Ironie vergessener Gesten.
Sprachen, unbegriffen: Laute und Formen.
Die Gegenwart
ist Lyrik
reiner Reime.
Deine, meine, einerlei: eine
oder einer muss
ausbrechen
nach vorne.
Anmerkung: Dies ist eine Fingerübung in sprachlicher Kameraführung und ein spontaner kleiner Beitrag für einen Freund. Falls du das liest: I'll go out fighting all of 'em. Danke.
Und Ben: der Schmerz muss noch ein wenig warten. Aber er kommt. (Immer.)
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Whisky
Freitag, 29. Juni 2012
The Paradoxes of Time Travel
Die Plätze sind gut, zweifelsohne. Erste Reihe, direkt vor
der Bühne. Würde ich mich aus dem schmalen blassgrünen Plastikstuhl erheben und
einen langen Schritt nach vorne wagen, könnte ich die Tennisschuhe des
Schauspielers anfassen.
Ich tue nichts dergleichen.
Ich betrachte das Geschehen auf der Bühne und versuche zu
verstehen. Das Stück scheint seltsam vertraut, nicht wie etwas, das ich schon
einmal gesehen habe, sondern eher wie etwas, von dem mir erzählt wurde oder von
dem ich gelesen habe. Es stört mich, dass ich nicht weiß, was für ein Stück es
ist; nicht nur, weil ich keine Ahnung habe wie lang ich schon hier bin und
warum und was hier überhaupt ist. Es
stört mich so wie es mich immer stört, wenn ich mich nicht daran erinnern kann,
wie ein bestimmter Schauspieler heißt oder in welchem Film er war. Das
Programmheft in meiner Hand, das ich erst jetzt bemerke, erlöst mich: Infinite
Jest. Unendlicher Spaß. Nun betritt auch Madame Psychosis die Bühne, durch die
ich das Stück sofort erkannt hätte, aber vermutlich betritt sie die Bühne eher weil ich das Stück endlich erkannt habe.
Die Plätze sind nicht wirklich mittig sondern ziemlich weit
rechts, vielleicht gar nicht so gut, wie ich anfangs dachte. Ich kann nicht
sagen, wie weit rechts wir uns befinden, denn wenn ich den Kopf vorsichtig nach
rechts drehe, sehe ich fast nur Schatten: gerade so kann ich den Kopf und
Oberkörper eines dunkelhaarigen, dünnen Mannes ausmachen, der vielleicht einen schmalen
Schnurrbart trägt und der scheinbar gefesselt ist vom Geschehen auf der Bühne –
ich kann seine Augen nicht erkennen aber er bewegt sich nicht. Hinter ihm wird
es so dunkel, dass ich mich fragen muss, ob das Publikum absichtlich so
ausgeleuchtet wurde und wenn ja, welche Rolle es in diesem Stück spielt.
Warum denke ich ständig an "Plätze", Plural? Ich bin nicht allein hier. Ich habe plötzlich Angst, nach links zu schauen. Vielleicht
nicht wirklich Angst sondern eher Nervosität. Vorfreude?
Im Gegensatz zu der statischen, düsteren und unnahbaren
Puppe zu meiner Rechten ist jemand links neben mir, das fühle ich. Mein linkes
Bein berührt sein rechtes, ich kann den rauen Stoff seiner ausgewaschenen
hellen Jeans durch meine schwarze Strumpfhose hindurch fühlen. Meine freie
Hand, die kein Programmheft hält, liegt auf meinem Bein knapp unterhalb des
Knies, die meines Sitznachbarn ebenfalls. Sein Bein ist etwas länger, sodass
meine Seite wie ein geschrumpftes, verzerrtes Spiegelbild aussieht. Meine
Zeige- und Mittelfinger berühren seinen kleinen- und Ringfinger.
Ich versuche ihn unauffällig von der Seite anzusehen, doch
er dreht sofort den Kopf, lächelt und flüstert einen verschwörerischen
Kommentar über das Stück, den ich leider nicht verstehe. Sein Gesicht ist so
vertraut wie das eines Freundes und ich kann es schneller zuordnen als das
Stück, doch ich kann es nicht glauben.
Der Dreitagebart sowie die schulterlangen braunen Haare sind
durchzogen von vereinzelten grauen Strähnen, die sein Haar heller erscheinen
lassen, als es ist. Die Augen dafür umso dunkler, eingefasst in ein perfektes
Oval von Braungrau.
Es ist das Jahr 2005 und ich sitze in einer englischen
Inszenierung von Infinite Jest mit
David Foster Wallace, dem Autor des Romans.
Soweit ich weiß gibt es selbst in 2012 noch keine englische
Theaterfassung von Infinite Jest und
auch die deutsche Version kann kaum älter sein als 2011.
David Foster Wallace sagt schon wieder etwas, das ich nicht
verstehe, und ohne es auch nur zu versuchen weiß ich, dass ich nichts antworten
kann. Obwohl ich keine Worte ausmachen kann höre ich doch die Sanftheit, die
kaum merklichen Hebungen und Senkungen, die Ruhe, die in seiner Stimme – die seine Stimme ist.
Ich starre ihn nun wirklich an, ungehemmt, die Bühne ist
vergessen, es scheint ihn nicht zu stören. Er lächelt. Kurzzeitig verschwimmt
sein Gesicht und seine Haare und sein Bart werden heller, silbern, und er ist
nun jemand, den ich tatsächlich kenne und der wichtig für mich ist, doch bevor
ich diesen anderen Mann fassen kann ist er schon wieder David Foster Wallace,
lächelnd, sanft.
Ich höre seinem singenden Flüstern zu, ohne zu verstehen,
ohne etwas erwidern zu können, und ich betrachte Madame Psychosis auf der
Bühne, die ich so gut verstehe und die ununterbrochen „Sixty Minutes More Or
Less With Madame Psychosis“ haucht und plötzlich verstehe ich, was mich
erwartet, besser noch was ihn erwartet,
ich verstehe alles bis ins letzte Detail, bis in die letzte Sekunde, und ich
winde mich, und ich fühle mich weinen, nicht in diesem Traum sondern im Schlaf,
denn ich weiß, dass ich nun hier sitzen muss, (Sixty Minutes More Or Less?),
neben diesem Mann, den ich so verehre, ohne ihn zu kennen, sein unendliches
Theaterstück verfolgend, stumm und taub, wissend, dass er sich in drei Jahren,
in 2008, umbringen wird, und ich kann nichts tun.
Es ist 2012 und David Foster Wallace, der dieses Jahr 50 Jahre
alt geworden wäre, hat sich vor vier Jahren umgebracht. Als ich aufwachte war mein Kissen feucht.
Du kannst immer, immer, immer
nur in die Zukunft reisen.
Du tust es mit jedem
Atemzug,
Wort,
Satz,
den du beendest.
Die Vergangenheiten,
deine
und die, die du stiehlst,
reisen mit dir.
Die Zeit ist ein Meer
und der Bug deines Schiffes
teilt es
in Vergangenheit und Zukunft,
und du treibst dazwischen,
doch es ist alles Wasser,
und selbst dieses Bild
ist nicht meines,
sondern das einer Frau,
die in meiner Vergangenheit einmal
mit mir sprach,
und in deren Vergangenheit ich
sicher nicht auftauche;
die nicht weiß, wer ich bin.
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David Foster Wallace,
Schlaf,
Surrealismus
Samstag, 14. April 2012
Vom Häuten
„Die Schuppenflechte oder die Psoriasis (altgr. ψωρίασις; im Altertum fälschlicherweise gleichgesetzt mit der ψώρα psóra „Krätze“) ist eine Krankheit, die in typischen Fällen als Hautkrankheit auftritt, die sich im Wesentlichen durch stark schuppende, punktförmige bis handtellergroße Hautstellen (häufig an den Knien, Ellenbogen und der Kopfhaut) sowie Veränderungen an den Nägeln zeigt. Es handelt sich insoweit um eine Systemerkrankung in Form einer nicht-ansteckenden, entzündlichen Dermatose. Außerdem kann die Psoriasis auch andere Organe erfassen, vor allem die Gelenke und zugehörigen Bänder und angrenzenden Weichteile sowie die Augen und das Gefäßsystem. Die Ätiologie der Psoriasis ist vermutlich multifaktoriell (erbliche Disposition, Autoimmunreaktion) und noch nicht abschließend geklärt.“ (Wikipedia, 2012. http://de.wikipedia.org/wiki/Psoriasis Zugriff 14/04/2012)
Sie häutet sich.
Ihre Metamorphose ganz
kafkafrei und metapherlos. Tanz-
und bewegunsarm. Gestellt.
Indifferente (De)Platzierung.
Ihr Körper entwendet, entledigt, entstellt.
Nur häutende Masse.
Entfällt jeder Klassifizierung,
sagen die Ärzte.
Beherzte mutige Spiegelblicke:
ihr Körper plötzlich Objekt.
Vertraute Augen fassungslos fassend.
Bekannte Lippen bekennend:
wie nehme ich wahr
wie nehme ich mich wahr
wie nehme ich wahr wenn ich Wahrnehmende mir
Fremde(s) bin?
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Realismus
Samstag, 24. März 2012
Von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen
Oder: Wie man in ein fremdes Land zieht
Verlasse.
Komm an.
Laufe in Menschen und Wände.
Kämpfe keine Kämpfe, die du nicht gewinnen kannst: kämpfe nicht mit der Sprache.
Entdecke, dass niemand sieht, was du siehst, dass niemand hört, was du hörst. Verstehe also, dass du blind und taub bist. Dass du keinen Stock hast und kein Wort Braille beherrschst. Leg dir eine Augenbinde um und verschließe deine Ohren mit Wachs.
Vergiss Odysseus – er wird dir hier nicht helfen. Du willst die Sirenen nicht umschiffen, du willst Sirene werden.
Der einzige Sinn, der dir bleibt, ist Fühlen. Erfühle also alle Räume. Erfühle auch Menschen: umarme dankbar alle Führer, die sich dir anbieten. Bezahle sie großzügig mit Lächeln.
Liebe so viel du kannst. Versuche, wenig zu hassen. Wenn du hassen musst, wisse die Gründe. Vergiss sie so schnell wie möglich.
Irgendwann kennst du die Körper. Die Räume sind vertrauter. Die Sprache, das fremde Bett, riecht schon nach dir. Die Führer, verstört, folgen nun dir. Du darfst sie zurücklassen, wenn du willst.
Unterscheide die Menschen. Erzähle jenen, die dir näher sind, von deiner Blind- und Taubheit. Sie müssen verstehen. Wenn sie das nicht tun, lasse auch sie zurück.
Bis hierher bin ich gekommen. Ob wir die Augenbinde und das Wachs jemals loswerden, weiß ich nicht.
Lasse mich nur bei den Führern und den entfernten Fremden.
Fremder Nebel macht Frühlings- zur Rau(ch)nacht.
Schau: die acht Licher vor meinem Haus, einst vertraut,
führen mich irre.
Wirr stolpere ich hinaus und staune.
Harrend der Dinge, die da raunen mögen.
Verlasse.
Komm an.
Laufe in Menschen und Wände.
Kämpfe keine Kämpfe, die du nicht gewinnen kannst: kämpfe nicht mit der Sprache.
Entdecke, dass niemand sieht, was du siehst, dass niemand hört, was du hörst. Verstehe also, dass du blind und taub bist. Dass du keinen Stock hast und kein Wort Braille beherrschst. Leg dir eine Augenbinde um und verschließe deine Ohren mit Wachs.
Vergiss Odysseus – er wird dir hier nicht helfen. Du willst die Sirenen nicht umschiffen, du willst Sirene werden.
Der einzige Sinn, der dir bleibt, ist Fühlen. Erfühle also alle Räume. Erfühle auch Menschen: umarme dankbar alle Führer, die sich dir anbieten. Bezahle sie großzügig mit Lächeln.
Liebe so viel du kannst. Versuche, wenig zu hassen. Wenn du hassen musst, wisse die Gründe. Vergiss sie so schnell wie möglich.
Irgendwann kennst du die Körper. Die Räume sind vertrauter. Die Sprache, das fremde Bett, riecht schon nach dir. Die Führer, verstört, folgen nun dir. Du darfst sie zurücklassen, wenn du willst.
Unterscheide die Menschen. Erzähle jenen, die dir näher sind, von deiner Blind- und Taubheit. Sie müssen verstehen. Wenn sie das nicht tun, lasse auch sie zurück.
Bis hierher bin ich gekommen. Ob wir die Augenbinde und das Wachs jemals loswerden, weiß ich nicht.
Lasse mich nur bei den Führern und den entfernten Fremden.
Fremder Nebel macht Frühlings- zur Rau(ch)nacht.
Schau: die acht Licher vor meinem Haus, einst vertraut,
führen mich irre.
Wirr stolpere ich hinaus und staune.
Harrend der Dinge, die da raunen mögen.
Freitag, 16. März 2012
Zwischenräume
Man sagt ja, die Augen seien der Spiegel der Seele. Das ist so nicht ganz richtig. Tatsächlich habe ich festgestellt, dass sie mehr eine Tür sind.
Ich hatte so einen Verdacht, lange bevor ich Beweise hatte. Meine Theorien gründeten sich auf die detaillierte Lektüre phantastischer Literatur sowie einige flüchtige Ausflüge in die kognitive Psychologie, welche zwar immer recht unterhaltsam aber zum Großteil wenig hilfreich waren. Das Problem mit Türen ist natürlich, dass man sie absperren kann, was die meisten Menschen denn auch tun. Weniger aus egoistischen Gründen, wie ich meine, sondern mehr aus Nächstenliebe. So eine Seele ist ja in der Regel weit weniger glamourös als das klangvolle Wort mit seinen drei Es durchblicken lässt. Um es anders auszudrücken, Menschen, die im Erdgeschoss wohnen, schaffen sich die Vorhänge nicht an, weil sie so stolz auf ihr geschmackvoll eingerichtetes und stets ordentliches Wohnzimmer sind.
Tatsächlich öffnen Menschen ihre Augentüren sehr viel eher für Dinge als für andere Menschen. Das stellte ich fest, als ich nach monatelangen fruchtlosen Einbruchsversuchen meiner damaligen Freundin den Weinkorken unseres ersten gemeinsamen Abendessens zu irgendeinem Jubiläum, ich glaube es war ein fünfjähriges, schenkte. Zunächst dachte ich, sie sei enttäuscht, weil sie, wie ich wusste, seit einiger Zeit einen Ring erwartete, doch dann erkannte ich dass das, was ich für Schatten oder Tränen gehalten hatte, die weit geöffneten Tunnel ihrer Augen waren.
Nach dieser Entdeckung war alles ganz einfach. Ich scheute keine Kosten und Mühen (extravagante Abendessen, Reisen, Kunstwerke, schließlich der Ehering) um etwas Übung zu gewinnen, und es dauerte kaum zwei Jahre, da konnte ich durch Türspalten schlüpfen, an denen Katzen gescheitert wären. Oft reichten der Anblick von Schokolade oder einem Designerkleid bei Frauen, ein Fußball oder eine Bierflasche bei Männern, um mich einzulassen.
Doch ich muss euch sagen, irgendwann versiegt die Neugierde. Die meisten Menschen ähneln sich und die, die sich von der Masse unterscheiden, sind weit öfter erschreckend als erfreulich. Seit langem schon habe ich es aufgegeben, in andere Menschen einzudringen. Ich bin inzwischen lieber allein und ungestört. Es macht mir nichts aus, die Ergebnisse meiner mühevollen Arbeit mit euch zu teilen, sie erscheinen mir leider sehr unbedeutend.
Unter uns, ich arbeite an einem neuen Projekt. Ich versuche, Einblick in meine Seele zu bekommen. Dafür habe ich mir bereits diverse Spiegel sowie Fotoapparate, Videokameras und Webcams besorgt. Auf all diesen Oberflächen starre ich nun jeden Tag stundenlang in meine Augen. Aber ich fürchte, genau da liegt das Problem. Um es anders auszudrücken, meine Augen öffnen sich für mein Gesicht keinen Millimeter. Mein Gesicht öffnet meine Augen keinen Millimeter.
Keinen Millimeter.
Zwischen uns liegt
Raum,
tief und weit(er).
Wir vergessen den
Zaun,
fallen frei(er).
Abgründe halten unseren Atem (an).
Zungen verbrennen beim Auf-
zergehen.
Augen erblinden beim Aus-
versehen.
Gerüche verirren im Sommer-
erblühen.
Knochen zerknirschen beim Ein-
zerfühlen.
Abgründe halten unsere Sinne (gefangen).
Natürlich sind wir gegen die Natur.
Wir bauen brüchige Brücken,
wir brechen Hälse und Rücken
in wütenden Sprüngen.
Doch abends dann, wenn wir zu müde sind,
begnügen wir uns damit in den Schlund
ein blickgespicktes Wort zu schicken, flehend
dass Echos wohl die andre Wand erklimmen
und dass der andre das, was unsren Mund
einmal verließ, entstellt, vielleicht versteht.
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