Diese Seite enthält nur Worte und ist nicht daran interessiert, deine Augen oder Ohren zu unterhalten.

Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

Alles, was hier beschrieben wird, ist wahr. (In deinem Kopf.)



Dienstag, 20. November 2012

Von den Sinnen





Die nächtliche Straße erscheint gleißend hell: das notorisch flackernde Licht der vereinzelten Straßenlaternen tanzt über den Schnee, umarmt die Menschen, erklimmt die hohen Häuserwände und springt in den Himmel.
Ein junger Mann packt ein Mädchen am schneeballschlachtnassen Mantel und wirft sie in die Luft. Sie schreit, oder jauchzt, der exquisite Moment des Wendepunkts, dann der Fall, und seine Hände wenige Zentimeter und viele Stoffschichten über ihren Hüften,  und das Geräusch seiner Schuhe im Schnee, die knirschen, Widerstand brechend, gleiten, sein Körper nun in der Diagonale, und schräger tiefer weiter, seine Arme beschließen, nicht ihn, sondern sie zu retten und sie legen sich um ihren Rücken, der Fang plötzlich Umklammerung, ihre linke Hand in seinem Nacken drückt sie seinen Kopf an ihre Brust, ihre rechte Hand abgestreckt, den Schlag des Bodens erwartend, ihre Beine winden sich um seine Hüfte, gerade noch rechtzeitig, und so hält sie ihn beinahe schwebend, als sie gemeinsam aufprallen:
sie, halb kniend, halb kauernd, und die rechte Hand abgestützt, er, an ihren Oberkörper geklammert und eingeklemmt zwischen ihren Schenkeln. Für einen Sekundenbruchteil: ein Bild.
Dann keucht sie, gibt ihn frei, er sinkt in den Schnee, ihr Arm und ihre Beine geben nach, rutschen nach außen, und sie folgt ihm. So liegen sie, erschrocken kichernd, schwer atmend, als die anderen zu ihnen laufen.

Wenige Stunden später, am nächsten Morgen, erwacht sie, verstört. Es ist kein natürliches Erwachen, sie wird aufgeweckt. Ein Geräusch. Ein Pochen. Eine Weile lang liegt sie so da und lauscht. Verkaterte Synästhesie: das Pochen kommt aus ihrem Körper. Es entspringt ihrem linken Knie, das ungewohnt viel Platz unter ihrer Bettdecke einnimmt. Ein Klangraum, in dem sich das Blut aufbäumt und überschlägt,  um dann in wilden Wellen in ihren Ohren zu branden. Sie hält ganz still und spürt dem Rhythmus nach. Sonst fühlt sie gar nichts.
Doch irgendwann muss sie sich bewegen und aufstehen. Schon in dem Moment, als sie den Oberkörper aufrichtet und abstützt, noch ohne die Beine zu rühren, wird das Rauschen in einem Donnerschlag begraben. Sie hat ihn erwartet. Ihr Stöhnen klingt fast wie ein Seufzer.
Sie schält ihr Knie aus Bettdecken und Hosenbeinen. Es sieht aus wie aufgebläht. Nicht verfärbt, nicht aufgeplatzt. Als könnte sie es vorsichtig mit einer Nadel anstechen und die Luft würde mit einem müden Pfeifen entweichen. Noch immer auf dem Bett, mit dem entblößten, geschwollenen Knie, sucht sie nach anderen Schmerzen. Sie findet: der rechte Handballen, das rechte Knie, das rechte Sprunggelenk. Doch all diese Akteure überlassen dem Luftballonknie die Bühne.
Sie ringt mit der Panik, die an Rage grenzt, und die sich aufbäumt wann auch immer ihr Körper sie im Stich lässt. Ein Kampf,  den sie in den letzten Jahren immer öfter gewonnen hat. Tief atmend überlegt sie sich ihre nächsten Schritte ganz genau. Sie steht auf, nimmt eine Plastiktüte, humpelt zur Hoteltür, schleppt sich, noch immer in ihrem Pyjama, die Treppen hinunter. Je länger sie aufrecht steht, desto lauter schreit ihr Knie. Sie sieht und hört nichts von den Menschen im Foyer, die sie verwundert anstarren und ihr Hilfe anbieten, geht direkt zur Eingangstür und beugt sich umständlich zu Boden. Sie füllt die Tüte mit ein paar Handvoll Schnee und Eis und versucht, die Treppen wieder zu erklimmen. Es geht langsam.
Zurück im Bett befestigt sie die Eistüte mit Tape an ihrem Knie. Der Chor der Schmerzen verstummt. Sie rüstet sich für den beißenden Eisschmerz, der nach einigen Sekunden einsetzen müsste, doch er bleibt aus. Sie beginnt eine Liste mit Dingen, die sie heute, an ihrem letzten Tag vor der Heimreise, erledigen muss, und eine sinnvolle Reihenfolge, die ihr unnötige Wege erspart. Sie macht radikale Abstriche. Das Blut unterhalb des Knies fließt kälter. Alles andere ist taub.

Sie erledigt all ihre Aufgaben langsam und mühevoll. Es ist ihr unangenehm, die Eistüte in der Öffentlichkeit neu aufzufüllen, wenn der Inhalt geschmolzen ist. Vielleicht hört ja irgendwer ihre Schmerzen. Am frühen Abend sinkt sie in ihr Bett, das Knie hochgelegt, matt und wehrlos den Geschichten lauschend, die ihr Blut ihr erzählt.

Die Zugfahrt und der Flug am nächsten Tag sind am schlimmsten. Wegen des Gepäcks, wegen der Menschen, wegen des Mangels an Schnee, wegen der Kraft und Agilität und Lautstärke des Wesens, das sich in ihrem Knie eingerichtet hat.
Zuhause angekommen hätte sie endlich Coolpacks, stellt aber fest, dass Eis effektiver ist. Sie fragt sich, ob sie arbeiten kann, und beschließt: sie kann.

Drei Wochen lang arbeitet sie jeden Tag. Eine abwesend wirkende, seltsame Gestalt mit schleppendem Gang, ungleichen Beinen, oft verschwindend, manchmal taub für ihre Umwelt, dabei stoisch und verlässlich. Ihr Schmerz ist ein Kind, um das sie sich kümmert. Es zieht die Welt dichter zusammen: alles ist lokal, temporal, in ihr, jetzt. Nur mit Mühe kann sie sich lösen, sein Wimmern ignorieren, um Listen und Pläne zu machen, um kurz zurückzublicken auf den Moment des Falls, das Bild, das sie nie sah und das doch eingebrannt ist in ihren Kopf, dann wird sie zurückgerufen. Menschen, die nur im Moment existieren, wirken seltsam unpräsent.

Als ihr Job endlich abgeschlossen ist findet sie Zeit, zum Arzt zu gehen. Dessen Untersuchung und Analyse nimmt sie hin: nicht als Erklärung für eine Malfunktion, sondern als interessante Erläuterung der genauen Abläufe eines natürlichen Körpervorgangs. Verdauung, Blutbildung, Knieschmerzen.
Man könne operieren, aber das sei in dieser Region immer riskant, und es wäre sicherer, einfach abzuwarten, falls sie die Schmerzen ertragen könne.

Sie lächelt.


Der Schmerz ist ein einsamer Jäger.
Er flicht seine Beute auf Räder,
die Gräber lässt er dem Geier.
Als unbekannter Vogelfreier
lebt er in den Dingen:
rühr sie, sie erklingen.
Wellen springen, spür sie,
rüste dich und führ sie,
trag den Schmerz in dir
wie ein Kind.
Gebier ihn nie.

Sei kein Jäger.



Anmerkung: Ben, endlich! Ich bin mir nicht sicher, ob es deinen Erwartungen entspricht. Vielleicht ist dieser Stil zu prosaisch für mich. Die Lyrik knabbert unaufhaltsam an allen meinen Buchstabenreihen. Aber es war sehr interessant für mich, ein wenig zu experimentieren und Neues zu wagen. Für die Rezeptidee bin ich dir übrigens sehr dankbar, das steht demnächst sicher auf dem Menü.

Donnerstag, 8. November 2012

Von der (Un-)Endlichkeit aller Dinge




Ich stehe an einer stark befahrenen Straße. Autos brüllen an mir vorbei. So dicht, dass ich sie berühren könnte. So dicht, dass sie mich berühren könnten.
Ich könnte fallen.

Und Vertigo –

Es gibt Momente, in denen ich stocke. Kleben geblieben in Zeit und Raum, löse ich mich nur mit Mühe. Konturen verschwimmen und verharren, regungslos, gespannt. Nie fasse ich die Welt so sehr wie in diesen Momenten, da sie mir entgleitet.
Und sie staunt. Mich an. Ich lasse sie starren wie eine Geliebte. Schamlos.

Wir entrücken einander. Die Kluft zwischen dem, was ist, und dem, was bleibt, blitzt auf für Sekundenbruchteile, für Wimpernschläge. Kaum Zeit genug für ein Herzstolpern, kaum Zeit genug für ein Seufzen.
Die Distanz zwischen mir und den Dingen. Die Erkenntnis, dass meine Welt ohne mich nichts ist. Die Erkenntnis, dass die Welt mich trotzdem überdauert.

Das wilde Zerren, schließlich Losreißen, aller Dinge. Die Spannung, der Schmerz, der Bruch, die Erleichterung. Das Echo in meinem Kopf: „Auch noch verlieren ist unser.“

Und wenn die Unendlichkeit dort ist, wo Parallelen sich schneiden, dann ganz ehrlich – dann will ich da auch gar nicht hin.


Oh Schläfer,
die Welt steht auf mit mir.

Sanft atmend ruhen die Dinge bis ich sie wecke.
Verschrecktes Zucken, verklebte Ringe
unter den Augen, erwachen sie mühsam.

Sie gähnen und fletschen die Zähne.
Ein Spiel: wer hält wen an der Leine?
Beine, meine, deine, kreisen wie im Tanz.

Die Welt steht auf mit mir
und Ende glänzt
an allen Bruchstellen meines Misslingens.




ENDLICH!
Ist alles vorbei.
Wer mir sagen kann, auf welchen Text sich das Gedicht am Ende bezieht, gewinnt irgendwas.