Die nächtliche Straße erscheint gleißend hell: das notorisch
flackernde Licht der vereinzelten Straßenlaternen tanzt über den Schnee, umarmt
die Menschen, erklimmt die hohen Häuserwände und springt in den Himmel.
Ein junger Mann packt ein Mädchen am
schneeballschlachtnassen Mantel und wirft sie in die Luft. Sie schreit, oder
jauchzt, der exquisite Moment des Wendepunkts, dann der Fall, und seine Hände
wenige Zentimeter und viele Stoffschichten über ihren Hüften, und das Geräusch seiner Schuhe im Schnee, die
knirschen, Widerstand brechend, gleiten, sein Körper nun in der Diagonale, und
schräger tiefer weiter, seine Arme beschließen, nicht ihn, sondern sie zu
retten und sie legen sich um ihren Rücken, der Fang plötzlich Umklammerung,
ihre linke Hand in seinem Nacken drückt sie seinen Kopf an ihre Brust, ihre
rechte Hand abgestreckt, den Schlag des Bodens erwartend, ihre Beine winden
sich um seine Hüfte, gerade noch rechtzeitig, und so hält sie ihn beinahe
schwebend, als sie gemeinsam aufprallen:
sie, halb kniend, halb kauernd, und die rechte Hand
abgestützt, er, an ihren Oberkörper geklammert und eingeklemmt zwischen ihren
Schenkeln. Für einen Sekundenbruchteil: ein Bild.
Dann keucht sie, gibt ihn frei, er sinkt in den Schnee, ihr
Arm und ihre Beine geben nach, rutschen nach außen, und sie folgt ihm. So
liegen sie, erschrocken kichernd, schwer atmend, als die anderen zu ihnen
laufen.
Wenige Stunden später, am nächsten Morgen, erwacht sie,
verstört. Es ist kein natürliches Erwachen, sie wird aufgeweckt. Ein Geräusch.
Ein Pochen. Eine Weile lang liegt sie so da und lauscht. Verkaterte
Synästhesie: das Pochen kommt aus ihrem Körper. Es entspringt ihrem linken
Knie, das ungewohnt viel Platz unter ihrer Bettdecke einnimmt. Ein Klangraum,
in dem sich das Blut aufbäumt und überschlägt,
um dann in wilden Wellen in ihren Ohren zu branden. Sie hält ganz still
und spürt dem Rhythmus nach. Sonst fühlt sie gar nichts.
Doch irgendwann muss sie sich bewegen und aufstehen. Schon
in dem Moment, als sie den Oberkörper aufrichtet und abstützt, noch ohne die
Beine zu rühren, wird das Rauschen in einem Donnerschlag begraben. Sie hat ihn
erwartet. Ihr Stöhnen klingt fast wie ein Seufzer.
Sie schält ihr Knie aus Bettdecken und Hosenbeinen. Es sieht
aus wie aufgebläht. Nicht verfärbt, nicht aufgeplatzt. Als könnte sie es
vorsichtig mit einer Nadel anstechen und die Luft würde mit einem müden Pfeifen
entweichen. Noch immer auf dem Bett, mit dem entblößten, geschwollenen Knie,
sucht sie nach anderen Schmerzen. Sie findet: der rechte Handballen, das rechte
Knie, das rechte Sprunggelenk. Doch all diese Akteure überlassen dem
Luftballonknie die Bühne.
Sie ringt mit der Panik, die an Rage grenzt, und die sich
aufbäumt wann auch immer ihr Körper sie im Stich lässt. Ein Kampf, den sie in den letzten Jahren immer öfter
gewonnen hat. Tief atmend überlegt sie sich ihre nächsten Schritte ganz genau.
Sie steht auf, nimmt eine Plastiktüte, humpelt zur Hoteltür, schleppt sich,
noch immer in ihrem Pyjama, die Treppen hinunter. Je länger sie aufrecht steht,
desto lauter schreit ihr Knie. Sie sieht und hört nichts von den Menschen im
Foyer, die sie verwundert anstarren und ihr Hilfe anbieten, geht direkt zur
Eingangstür und beugt sich umständlich zu Boden. Sie füllt die Tüte mit ein
paar Handvoll Schnee und Eis und versucht, die Treppen wieder zu erklimmen. Es
geht langsam.
Zurück im Bett befestigt sie die Eistüte mit Tape an ihrem
Knie. Der Chor der Schmerzen verstummt. Sie rüstet sich für den beißenden
Eisschmerz, der nach einigen Sekunden einsetzen müsste, doch er bleibt aus. Sie
beginnt eine Liste mit Dingen, die sie heute, an ihrem letzten Tag vor der Heimreise,
erledigen muss, und eine sinnvolle Reihenfolge, die ihr unnötige Wege erspart.
Sie macht radikale Abstriche. Das Blut unterhalb des Knies fließt kälter. Alles
andere ist taub.
Sie erledigt all ihre Aufgaben langsam und mühevoll. Es ist
ihr unangenehm, die Eistüte in der Öffentlichkeit neu aufzufüllen, wenn der
Inhalt geschmolzen ist. Vielleicht hört ja irgendwer ihre Schmerzen. Am frühen
Abend sinkt sie in ihr Bett, das Knie hochgelegt, matt und wehrlos den
Geschichten lauschend, die ihr Blut ihr erzählt.
Die Zugfahrt und der Flug am nächsten Tag sind am schlimmsten.
Wegen des Gepäcks, wegen der Menschen, wegen des Mangels an Schnee, wegen der
Kraft und Agilität und Lautstärke des Wesens, das sich in ihrem Knie
eingerichtet hat.
Zuhause angekommen hätte sie endlich Coolpacks, stellt aber
fest, dass Eis effektiver ist. Sie fragt sich, ob sie arbeiten kann, und
beschließt: sie kann.
Drei Wochen lang arbeitet sie jeden Tag. Eine abwesend
wirkende, seltsame Gestalt mit schleppendem Gang, ungleichen Beinen, oft
verschwindend, manchmal taub für ihre Umwelt, dabei stoisch und verlässlich.
Ihr Schmerz ist ein Kind, um das sie sich kümmert. Es zieht die Welt dichter
zusammen: alles ist lokal, temporal, in ihr, jetzt. Nur mit Mühe kann sie sich
lösen, sein Wimmern ignorieren, um Listen und Pläne zu machen, um kurz
zurückzublicken auf den Moment des Falls, das Bild, das sie nie sah und das
doch eingebrannt ist in ihren Kopf, dann wird sie zurückgerufen. Menschen, die
nur im Moment existieren, wirken seltsam unpräsent.
Als ihr Job endlich abgeschlossen ist findet sie Zeit, zum
Arzt zu gehen. Dessen Untersuchung und Analyse nimmt sie hin: nicht als
Erklärung für eine Malfunktion, sondern als interessante Erläuterung der
genauen Abläufe eines natürlichen Körpervorgangs. Verdauung, Blutbildung,
Knieschmerzen.
Man könne operieren, aber das sei in dieser Region immer
riskant, und es wäre sicherer, einfach abzuwarten, falls sie die Schmerzen
ertragen könne.
Sie lächelt.
Der Schmerz ist ein einsamer Jäger.
Er flicht seine Beute auf Räder,
die Gräber lässt er dem Geier.
Als unbekannter Vogelfreier
lebt er in den Dingen:
rühr sie, sie erklingen.
Wellen springen, spür sie,
rüste dich und führ sie,
trag den Schmerz in dir
wie ein Kind.
Gebier ihn nie.
Sei kein Jäger.
Anmerkung: Ben, endlich! Ich bin mir nicht sicher, ob es deinen Erwartungen entspricht. Vielleicht ist dieser Stil zu prosaisch für mich. Die Lyrik knabbert unaufhaltsam an allen meinen Buchstabenreihen. Aber es war sehr interessant für mich, ein wenig zu experimentieren und Neues zu wagen. Für die Rezeptidee bin ich dir übrigens sehr dankbar, das steht demnächst sicher auf dem Menü.