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Dienstag, 12. Juli 2011

Auswandererlied



Er packte routiniert seinen abgewetzten Koffer, der ewig gleichen Packliste, die er doch immer neu schrieb, folgend. Er wog ihn, mehr aus Gewohnheit, und wusste doch, dass er die 20kg nicht überschreiten würde. Die Waage zeigte 19,3kg.

Er freute sich, dass er trotz allem noch die gleiche Aufregung verspürte, die er so gut kannte und liebte. Das war Innen. Von außen betrachtet – sah sein Spiegelbild müde aus. Und alt.
Er fuhr sich mit seinen nervös-feuchten Händen über die Schläfen, an denen das Haar schütter wurde. Dann lächelte er probehalber und erschrak, als er die verzerrte Grimasse, die sein Gesicht war, sah.

Irgendetwas in ihm zog sich zusammen, als er sich in dem leeren Zimmer umsah.
Ihm fiel auf, dass sein Koffer in den letzten sieben Jahren nie schwerer geworden war und sich der Inhalt, abgesehen von den Fotos neu gewonnener und schnell verlorener Menschen, kaum verändert hatte. Plötzlich wollte er nichts lieber, als diese Fotos auszupacken und wegzuwerfen, sie kamen ihm vor wie Leichen. Er war ein fauler Totengräber, der seine Särge nur herumschleppte, ohne sie jemals zu beerdigen.

Um die Panik zu besiegen sagte er sich, er könne ja zurückkommen, hierher. Das half ein wenig. Mit zitternden Händen öffnete er die Schnallen seines Koffers, blätterte durch die Fotos und zog eines hervor, das ihn mit einer jungen Frau zeigte. Sie lächelten beide und hier glaubte er sich das Lächeln. Er steckte das Bild hinter den Spiegel.

Das Taxi klingelte.


Ich habe meine Wünsche begraben,
es gab keinen Leichenschmaus.
Nur ein Haufen frischer Erde,
wie für ein Kätzchen,
und kein Stein.

Ich habe aufgehört meine Geduld zu essen
und dünge damit nun mein Grab.
Immer hoffend, dass eines Tages
ein Haus daraus sprießt.

Immer hoffend.

Wenn es einen Stein gäbe,
so wäre er aus Lehm
und die Inschrift aus Kreide:
Hier ruht
das Herz, der gefesselte Flüchtling

Wartend auf die Umarmung
der mahlenden Hand der Zeit

und immer hoffend.



(Anmerkung: In dem Gedicht finden sich Anspielungen auf "Die gekrümmte Linie des Leidens" von Nelly Sachs. Ist für die Interpretation zwar relativ irrelevant, trotzdem ein Gedicht, das jeder kennen sollte.)

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