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Samstag, 5. Februar 2011

Seekrank



Der Alkohol öffnet ihre Pupillen wie Türen. Jedes Mal, wenn er sie betrunken sieht, ist es wie an diesem ersten Abend bei ihm zuhause, als sie völlig unerwartet zu seiner Einweihungsparty auftauchte und ihn und seine Freunde im Sturm eroberte. Er kannte sie nur aus einem seiner Kurse, als hübsches, stilles, sehr kluges – nun, hauptsächlich aber hübsches Mädchen. Daher die Einladung. Warum sie auftauchte, weiß er bis heute nicht. Er weiß nur, dass er froh ist. Dass er sie mag.

Am liebsten mag er sie, wenn sie ihre kühle Gelassenheit fallen lässt, ihren Gesprächspartner mit Blicken aufspießt und laut und eindringlich ihr Meinung zu irgendetwas darlegt, dabei Worte durch den Raum schleudert mit Händen und Füßen. Und immer dieses Lächeln, das ihr bei solchen Diskussionen aufs Gesicht gemalt scheint und das es dem Gegenüber fast immer unmöglich macht, zu widersprechen. Nicht, dass es oft etwas zu widersprechen gäbe, ihre Argumente sind stets durchdacht, ihre Ansichten vorsichtig abgewogen und nie tatsächlich extrem.

Solche Momente sind selten, man muss das richtige Thema treffen und das ist bei ihr schwer zu erraten. Sonst ist sie still und so in sich versunken, so abgeschlossen, dass sie oft für schüchtern oder arrogant gehalten wird. Vielleicht ist sie das. Vielleicht verwirrt die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkt, ihn darum so sehr: weil sie von einem Vertrauen zeugt und eine Anerkennung darstellt, die er seines Wissens mit nichts gerechtfertigt oder ermutigt hat.

Doch andererseits scheint es nur natürlich, dass sich zwei Fremde in einer Großstadt aneinander festhalten. Zwar kommen sie nicht aus derselben Stadt, doch beide sind aus dem Süden und irren nun zwischen Kanälen und nördlichem Meerwind.
Alkohol hilft dabei, sie zu öffnen. So kam es wohl dazu, dass sie sich vor Weihnachten einmal etwas heftiger an ihm festhielt, als es für seine Beziehung angemessen war. Das sagte er damals auch indem er sie von sich schob, zitternd vor Angst, sie könne widersprechen. Er wusste, dass er dem nichts entgegenzusetzen hätte. Doch seine Sorge war unbegründet, sie lächelte nur und strich ihm über die Wange. Er spürte diese Berührung noch lange, nachdem sie gegangen war, lange nachdem sie beide über die Weihnachtsferien nach Hause gefahren waren, lange, nachdem er dort seine Freundin verlassen hatte.

Und nun sitzen sie also wieder in seiner Wohnung, zurück an ihrem angestammten Platz auf dem Boden, direkt an der Heizung, die täglich einen tapferen Kampf gegen die nordische Kälte austrägt. Ihre Pupillen: geöffnete Türen. Er fasst Mut und erzählt von der Trennung.

Ihr Lächeln blitzt auf doch irgendetwas in ihr fällt zu. Steif erklärt sie, wie gut sie es finde, dass sie beide so vernünftig gehandelt haben und so erwachsen mit der Situation umgehen. Wie ironisch es sei, dass Fernbeziehungen durch moderne Kommunikationsmöglichkeiten nicht leichter, sondern schwieriger werden. Wer denn heute noch die Gänsehaut kenne, die das Geräusch eines aufreißenden Briefumschlags auslöst. Dabei klammert sie sich immer fester an den Heizkörper.

Ob ihr kalt sei, unterbricht er sie vorsichtig. Sie verstummt, nickt, die linke Wange an die Heizung gepresst, die Arme um die Knie geschlungen. Er holt eine Decke.
Legt sie ihr um die Schultern. Er erschauert, wie damals, als er sie wegdrückte. Weil er sie heute an sich drücken will. Er lässt die Decke nicht los, sie nimmt die Decke nicht, verharrt in ihrer kauernden Haltung, er auf Knien vor ihr, die zitternden Hände noch immer auf ihren Schultern. Langsam, fast ängstlich, hebt sie den Kopf und sieht ihn an. Ihre linke Wange, die am Heizkörper lag, ist gerötet. Er gibt auf.

Fast grob reißt er sie mitsamt der Decke zu sich und küsst sie. Sie wehrt sich nicht. Erwidert den Kuss. Lässt sich von ihm zu Boden ziehen, wird von ihm begraben, taucht wieder auf, verharrt über ihm. Er liegt auf dem Rücken und sieht ihr Gesicht über sich, eingerahmt von den langen Haaren, die wie ein Vorhang um sein Gesicht herum auf dem Boden liegen und die Welt außerhalb ihrer beiden Köpfe aussperren. Und ihre Augen, ihre Augen sperren ihn aus.

Verwirrt fragt er sie, was los sei. Das Lächeln, zärtlich und einnehmend, blitzt auf. Sie sei gerne für ihn da, auch physisch, doch sie habe Angst, dass das mehr schaden als helfen würde. Er erkenne doch auch, wie gefährlich es sei, einen solchen Schritt in der aktuellen Situation, vor allem in der seinen, zu unternehmen. Die emotionale Wirkung von Sex werde in der heutigen Gesellschaft deutlich unterschätzt. Nicht, dass sie das bisher Geschehene bereue, das sei sicher nötig gewesen, doch genauso nötig sei es abzuwägen, wann man gehen muss. Und das sei für sie jetzt.
Er widerspricht nicht. Während sie ihren Mantel anzieht bestätigt er ihr verwirrt und ernüchtert, wie recht sie doch habe und wie gut, dass sie das so ausgesprochen hat. Dankbar empfängt er jedes ermutigende Lächeln und Nicken, das sie ihm schenkt.
Nachdem die Tür hinter ihr zugefallen ist legt er sich die Decke um die Schultern, setzt sich auf den Boden und presst die linke Wange an den Heizkörper.


Weinstürme, wilde.
Wir taumeln, wir schreien,
verzeihen der Welt, werden milde.

Umarmungen, grobe.
Wir packen, wir beißen,
zerreißen das Segel, das hohe.

Kehrtwende, wirre.
Wir sehen, verstehen,
entgehen dem Schiffbruch. Der irre
Kurs schnell berichtigt.
Verdächtige Ruhe nach dem Sturm.

Tauben fliegen, kommen nicht zurück.
Vielleicht gelandet, vielleicht ertrunken.

2 Kommentare:

  1. Das ist eines der besten Gedichte, die ich von dir gelesen habe. Manchmal triffst du genau diesen Nerv, den ich gerade nicht treffen kann. Sehr hohes Identifikationspotential in den meisten Fällen.
    Danke für diesen Blog, wirklich. Wie oft ich mich schon unglaublich begeistern könnte über deine Texte.

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  2. Hey nica, danke für deinen Kommentar. Tut immer gut zu wissen, dass meine Texte irgendwo ankommen, wo sie es schön haben.

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