Diese Seite enthält nur Worte und ist nicht daran interessiert, deine Augen oder Ohren zu unterhalten.

Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

Alles, was hier beschrieben wird, ist wahr. (In deinem Kopf.)



Mittwoch, 7. September 2011

Vom Begraben

Oder: Vom Leben



Die kleine Seefrau huschte wieder einmal im schwarzen Wald herum. Man sah sie dort immer öfter neuerdings, mit dem ewig hängenden Kopf, dem schiefen Gang und den tiefen Falten zwischen den meerblauen fischblanken Augen. Früher wusste man immer genau wo sie sich gerade aufhielt, man musste nur den Schmerzensschreien und dem Heulen und Wimmern folgen. Inzwischen hatte sie gelernt auf ihren zerschnittenen Messerfüßen leiser zu laufen als die Schatten über die Baumstämme und flinker zu entschlüpfen als die Nachtmahre durch die Kamine. Nur die bitteren Züge um die blassen Lippen und das leicht groteske o-beinige Humpeln, das sie sich angewöhnt hatte, deuteten darauf hin, dass die Schmerzen noch immer da waren, auch wenn sie sie zu einem Teil von sich gemacht hatte.

Wie jedes Mal auf ihren Streifzügen griffen ihr die Bäume in das lange weiße sich windende Meerschaumhaar in der Hoffnung, ein paar Stränge zu ergattern. Doch sie stieß weder ihr gurgelndes Lachen noch ihre donnernden Schimpftiraden aus. Die Bäume, Gräser, Käfer und Geisterseelchen, die sie passierte, wunderten sich.
In einem schmutzigen Tuch, das wie ein Bettlaken aussah, trug sie etwas. Tief im Herzen des schwarzen Waldes an einer Stelle, die ebenso schwarz wie jede andere in diesem verwunschenen Ort war, fiel sie plötzlich auf die Knie und fing an mit ihren feinen Fingern zu graben. Ein paar Wurzeln knarzten gekränkt doch auch dies strafte sie mit Schweigen.

Schließlich nahm sich eines der Geisterseelchen ein Herz und fragte sie in der Sprache der Meerjungfrauen, was das in dem Betttuch sei. Geisterseelchen sprechen die Sprachen aller Lebewesen, aber sie sprechen nicht gerne. Das klingt auf Anhieb traurig und ironisch, aber wenn man darüber nachdenkt ist es doch ziemlich verständlich.
Die Meerfrau aber schüttelte wütend den Kopf und ihre Brunnenaugen, die sonst eigentlich nur zur Traurigkeit taugten, sprühten Funken. Manchmal mochte sie es nicht, wenn man in der Sprache der Meerjungfrauen mit ihr sprach. Manchmal weinte sie vor Glück, wenn man es tat. Es kam immer ein wenig auf den Tag an, und das wiederum hing hauptsächlich von der Frau ab, die sie Mutter nennen musste und der das winzige Zimmer in dem riesigen Haus, in dem die Meerfrau mit anderen weiblichen Verirrten lebte, gehörte. Die Mutter mochte es nicht, wenn die Meerfrau in den Wald ging, denn obwohl sie nicht wusste, was genau dort vor sich ging, so hatte sie doch das Gefühl dass es etwas war, woran sie einige Silber- oder gar Goldkörner hätte verdienen können. Jedes Mal wenn die Meerfrau von ihren Streifzügen zurückkam klapperten die Schlangenhaare der Mutter bedrohlich.
Das Geisterseelchen (der Himmel weiß woher es diesen Mut nahm) versuchte es noch einmal in der Sprache der Menschen. Diesmal seufzte die Meerfrau nur, nahm das Bündel und stopfte es grob in das Loch, das sie gegraben hatte. Sie schien konzentriert zu überlegen während sie das Loch mit Erde bedeckte und schließlich sagte sie bedächtig und mit ihrem hallenden, tropfenden Meeresaktzent in der Sprache der Silberhirsche: „Ich begrabe meine Sprache.“

Verwirrt sahen sich alle Bewohner des schwarzen Waldes, die sie bis dahin beobachtet hatten, an. Eine Feuerlibelle holte den Silberhirsch, mit dem die Meerfrau seit Jahren hin und wieder schlief und für den sie überhaupt erst die Sprache der Hirsche gelernt hatte. Die Libelle hatte die beiden oft heimlich beobachtet und sich über die Geräusche und das Ringen der beiden weißen Körper in all dem Schwarz gefreut. Der Hirsch flog auf seinen schlanken Beinen und hatte sie eingeholt, lange bevor sie den Wald wieder verlassen konnte. Dankbar setzte sie sich auf seinen Rücken um sich das letzte Stück tragen zu lassen und massierte ihre Messerfüße.
„Warum hast du das getan?“ fragte der Hirsch, sehr langsam und deutlich sprechend, damit sie ihn verstehen konnte. Als sie nichts sagte fügte er hinzu: „Die Sprache der Menschen sprichst du nur mit der Mutter und im Haus. Meine Sprache sprichst du kaum. Wie willst du hier weiter leben?“

Die Meerfrau warf einen traurigen Blick in die Richtung, in der sie ihren Strand vermutete. Dann antwortete sie unsicher: „Aber ich lebe jetzt hier.“ Sie legte die erdverkrustete Hand um das kühle Geweih des Silberhirschen und fügte mit einem leisen Lächeln hinzu: „Du musst jetzt oft mir mit schlafen und sprechen.“

Der Hirsch warf sie mit einem Ausruf, der sich in unserer Sprache schlecht wiedergeben lässt, ab. Die Feuerlibelle jauchzte leise und versteckte sich im Gebüsch.



Darwins Wünsche belauern sich
wie Haie in deinem Herzen.
Sie messen, fressen, verdauen sich.
Du trägst sie, begräbst sie und trauerst nicht.
Was bleibt sind Wehenschmerzen

und Morgen-übelkeit.



Acrosswords is back online! Ich hatte jetzt für über einen Monat keine feste Bleibe. Nun, da ich wieder eine Wohnung und Internetanschluss habe werden die posts hoffentlich wieder etwas regelmäßiger kommen.
Zum Text an sich: ich bin noch einmal zum Surrealismus zurückgekehrt und habe ein bisschen die Genres mit Märchen vermischt. Gut durchgeknetet und bei 36° für ein paar Stunden in den Kopf - und schon haben wir den neuen Blogeintrag.

Am besten warm zu genießen, mit einer Prise Nelly Sachs:

Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.

- Danke, Mama, für den Hinweis auf das Gedicht und die Inspiration!

3 Kommentare:

  1. Freut mich, dass das Gedicht Dir eine Prise Hefe war, und
    Du eine herrliche Geschichte draus gebacken hast (übrigens ist am 25.5.2011 Leonora Carrington gestorben)
    Bussi! Mama

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  2. Hereingestolpert auf der Spur eines weinenden Bodybuilders und den ihn umgebenden Zitaten. Parce que je rêve, moi je ne le suis pas. Und hier umrankt es einen ja dann doch recht unwillkürlich. Hat was von Forellenfischen. Schön.

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  3. Ben! Das freut mich aber, dass M. Ducharme dich hierher geführt hat. Lass dich umranken und schwimm ein Stück mit.

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