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Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

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Montag, 21. März 2011

Notfallwhisky

Inspiriert von Michael Blacks „My brother is an only child


Es gibt Nächte, in denen ist es so kalt, dass du nicht einschlafen kannst. Auf die Seite gelegt umschlingst du deine Beine und drückst das Gesicht zwischen die Knie, um die Wärme deines Atems einzufangen. Dein gesamter Körper wird eine einzige, koordinierte Masse arbeitender Muskeln, die das bisschen Energie, das übrig ist, möglichst schnell und gerecht verteilen. Gedanken hast du keine. Nie bist du so Tier wie in diesen Nächten, in denen es so kalt ist, dass du nicht einschlafen kannst.

Und dann, wenn der Kampf gegen die Temperatur aussichtslos erscheint und du eben doch in einen verstörten Schlaf stolperst, dann erst geht es wirklich los. Du erfindest die Angst neu.

Das Model starrt dich an mit seinen Puppenaugen. Die roten Lippen sind zu einem grässlichen Kameralächeln verzerrt und eingefallenen Wangen scheinen fast schwarz in dem Pergamentgesicht. Sie hat wilde rote Locken, die sie wie eine Mähne schüttelt und dabei lacht. Ihre Stimme ist Kreide auf einer Schiefertafel. Du bist nervös und weißt nicht wieso. Du wirfst einen Blick auf die anderen Mädchen, die ihr gegenüber mit dir in einer Reihe stehen, sie sind nicht nervös. Sie wissen auch nicht, warum du nervös bist.
Das Model kreischt Befehle in eure Reihe. Die Mädchen folgen gehorsam und drehen sich einmal im Kreis, laufen auf und ab, fallen auf die Knie oder binden sich die langen braunen Haare zurück. Sie haben alle lange braune Haare, abgesehen davon sehen sie genauso aus wie das Model. Bald bist du an der Reihe. Du fragst dich, welche Übung du vollführen sollen wirst. Du fragst dich, ob du deswegen nervös bist. Aber das ist es nicht.
Eines der Mädchen legt die Haare über die Schulter. Und plötzlich siehst du es. Die Haare des Models sind gar nicht rot, das ist das Blut. Dir wird übel. Das Blut ist Teil des Grundes, warum du nervös bist. Du willst nicht hinsehen aber du musst es nun wissen.
An Stelle von Armen fuchtelt das Model unter Schreien und Keifen mit zwei blutigen Stumpen herum. Ihre Locken kleben daran fest. An der linken Schulter ist noch ein wenig zerfetztes Fleisch und so etwas wie ein Ellenbogengelenk erkennbar. Die rechte Schulter setzt sich nur ein paar Zentimeter fort, aus dem glatt abgeschnittenen Ende strömt ein feiner Blutstrahl.
Nun bemerkst du auch die Sanitäter, die emsig versuchen, eine Trage unter sie zu schieben. Sie scheint zu sitzen, aber du willst nicht genauer hinsehen, aus Angst dass sich ihre Beine als genauso verstümmelt herausstellen wie ihre Arme. Du siehst nicht hin. Du siehst nicht hin.
Die Sanitäter laufen zwischen den Mädchen hindurch und schieben sie beiseite. Die Mädchen sind nun regungslos, sie sind Schaufensterpuppen. Du willst eine von ihnen anfassen, da merkst du es.
In deinen Händen, schuldbewusst hinter dem Rücken versteckt, hältst du die Reste ihrer Arme. Du starrst sie für einige Sekunden fassungslos an. Dann lässt du sie fallen. Du willst dich übergeben, du beugst dich zur Seite, um dich nicht auf ihre Armreste zu übergeben, du willst dir die Haare aus dem Gesicht halten aber du kannst nicht, deine Hände sind verklebt mit Blut, Haut, Fleisch und einer schwarzen, schmierigen Substanz, du streckst die Arme links und rechts soweit es geht von dir und nach hinten. Du kannst sie trotzdem riechen. Du würgst in deine langen braunen Haare hinein, aber du übergibst dich nicht.
Du willst einem der Sanitäter erzählen, was geschehen ist, aber niemand außer dem Model kann sprechen. Sie kreischt und befiehlt mit unvermindertem Nachdruck. Du deutest auf die Körperteile am Boden, niemand sieht dich.
Du betrachtest die Schaufensterpuppen. Es sind keine Schaufensterpuppen, es sind immer noch die Mädchen. Sie tun nur so als ob. Du siehst, dass sie eben doch von Anfang an wussten, was hier geschieht, und nur unheimlich froh waren, dass sie nicht an deiner Stelle stehen. Du hasst sie.
Du wischst deine Hände an den Nylonhaaren des Mädchens neben dir ab. Sie werden nicht wirklich sauber, aber du siehst wie sich ihre Augen entsetzt weiten.

Du wachst auf in derselben Haltung, in der du eingeschlafen bist. Dein Bett ist nass vom Schweiß und von deinen Tränen. Du hast einen bitteren Geschmack im Mund.
Schwer atmend starrst du lange in die Dunkelheit und lauschst, hoffst irgendein vertrautes Geräusch zu hören. Etwas, das dir beweist, dass die Welt ohne Angst nach wie vor da ist und dich sicher hält. Die Kälte hast du vergessen.
Unter Schmerzen lockerst und löst du deine verkrampften Muskeln und rollst du dich auf den Rücken. Mit der rechten Hand tastest du in deiner Nachttischschublade. Kondome, Vibrator, da – Notfallwhisky.


Höflich klopft,
stilvoll schleicht
mein Nachtmahr.

Bleiern tropft
Schweiß und bleicht
Haut und Haar.

Dalí schwingt den Pinsel
durch schwarzrote Uhren und
langsam bewegen sich Buñuels Linsen
durch Augen und Hände und Ameisenschwärme
doch Cesares Sarg rastet ruhig und wartet
auf Jeanne d’Arc. Die weiß es. Und leisesten Fußes
besteigt sie den weißen Thron.
Schon schlägt es zum Tanze und ganze Heere
von Männern auf Mähren mit Mahren
erschlagen sie.

Ludwig van zählt sie feierlich an.

6 Kommentare:

  1. Danke Cindy. Tut gut wenns nachlässt.

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  2. Das ist ja schon wieder so schrecklich schön...

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  3. Danke, Anonym. Das ist ja das gute an Gedichten: sie machen etwas, was eigentlich einfach nur schrecklich ist, schrecklich schön.

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