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Freitag, 20. Januar 2012

Die Geschichte



Sie sitzen gemeinsam am elektrischen Kaminfeuer und stricken Sommerwiesen. Es herrscht ein lautes Schweigen, das nicht einmal von dem munteren Holzfeuerknackgeräuscheband, das auf voller Lautstärke spielt, aufgehoben wird. Dreihundertsiebzig Jahre lang sind sie nun schon Mitbewohner, sie haben einander alles gesagt, was man sagen kann und darf, kennen einander also wortwörtlich in- und auswendig. Sie haben denselben Beruf und dieselbe Wohnung. Leider enden da die Gemeinsamkeiten und in sämtlichen Gesprächen, die sie in den dreihundertsiebzig Jahren geführt haben, fanden sie sich gegenseitig bestenfalls befremdlich. Sie freuen sich beide insgeheim darauf, dass in drei Jahrzehnten der Mietvertrag ausläuft.
(Wenn der Zeitpunkt endlich gekommen ist werden sie sich allerdings gegenseitig aus Höflichkeit beteuern wie schön die letzten vier Jahrhunderte doch waren, dass sie sich nicht vorstellen können, mit irgendwem anderes eine neue Wohnung zu suchen, kurz und gut, am Ende – aber das ist eine andere Geschichte, die ich euch vielleicht beizeiten einmal erzähle.)


Wie dem auch sei. Selbstverständlich verbringen die beiden jede freie Minute miteinander. Und dem munteren Holzfeuerknackgeräuscheband (im Sommer ersetzt durch das fröhliche Vogelstimmentape).


Plötzlich scheint es als erhelle das elektrische Kaminfeuer das Gesicht der Einen, aber es ist nur ein Gedanke. Langsam lässt sie das Strickzeug sinken, nur um es dann wieder aufzunehmen und die Andere über ihre Arbeit hinweg immer wieder schelmisch lächelnd anzusehen.


Die Andere ignoriert sie.


Die Eine, sichtlich nervös, verliert eine Grasmasche und fragt endlich: „Möchtest du eine Geschichte hören?“


„Kommt auf die Geschichte an“, meint die Andere.


Die Eine grinst triumphierend. „Es ist eine phantastische Geschichte, glaub mir! Und sie ist völlig neu und noch ganz geheim. Man sagt…“


Die Andere hat angebissen und will es nun doch wissen. „Was sagt man denn also?“


Die Eine senkt die Stimme zu einem verschwörerischen Wispern: „Man sagt, dass nicht einmal Google sie kennt.“


Die Andere schnaubt nur verächtlich. Google ist ein gemeinsamer Bekannter der Beiden, ein großes dickes Ei, das zu jedem, aber auch wirklich jedem Thema irgendetwas mehr oder weniger Relevantes zu sagen hat. Über sich selbst spricht Google selten, es geht das unbestätigte Gerücht, er sei einer der letzten Traumhändler. Doch das kann und will sich niemand so recht vorstellen.


Trotzdem musst die Andere nachhaken: „Na das will ich hören.“ Und sie dreht das Band etwas leiser.


Die eine legt das Strickzeug beiseite, überschlägt die Beine und lehnt sich vor, sodass ihr Gesicht vom Feuer erleuchtet ist. „Es war einmal ein Koch, der hörte eines Tages auf, Koch zu sein. Hörte einfach auf! Er kündigte nicht, er warf nicht seine Messer in den Säuretopf – er hörte einfach auf!“


Die Andere strickt weiter, runzelt aber die Stirn. „Wie soll denn das gehen, einfach aufhören? Einfach aufhören zu sein? Das geht doch nicht. Nein, nein, das ist doch unerhört.“


„Aber wenn ich’s dir sage! Er hörte auf Koch zu sein, einfach so!“


„Von einem Tag auf den anderen?“


„Von einer Minute – nein, von einer Sekunde – nein warte, von einem Wimpernschlag auf den nächsten! Hörte auf!“


Mit diesen Worten nimmt die Eine ihre Arbeit wieder auf und scheint hoch zufrieden. Die Andere hingegen schweigt verbissen, die Furchen auf ihrer Stirn werden immer tiefer und ihr Mund zuckt nervös. Sie hasst es, wenn sie etwas nicht versteht. Schließlich gibt sie auf.


„Naja und was ist denn nun deine Geschichte?“


Überrascht errötend lässt die Eine die Nadeln sinken. „Das war sie.“


Die Andere lacht laut und hart. „Ha! Das war doch keine Geschichte! Das war nicht einmal eine Anekdote – Geschichten sind viel länger als das und sie haben einen Anfang und ein Ende und irgendwas dazwischen. Wenn du mir nicht glaubst frag doch Google.“ Damit dreht sie das Band wieder lauter und das Schweigen kommt zurück.


Verlegen und erzürnt starrt die Eine ins Feuer und setzt mit einiger Verspätung hinzu: „Angeblich aß er danach nur noch Kürbiskerne und Milcheis.“


Aber ich glaube, der letzte Teil war gelogen.




Ich erfinde:
empfinde Verbanntes,
Bekanntes entschwindet.
Verwandtes ent-wändend,
Beschauliches schändend.


Ich lache:
Entfache das Sachte.
Des Nachts will ich gehen
mit Blinden, sehen-
den Wortes.



6 Kommentare:

  1. Mutig, dass du einen Herrn Google einbaust. Man munkelt er sei vielleicht ein entfernter Verwandter des Herrn Godot. Schwierig, ihn zu fassen zu bekommen...

    Falls du Postkarten magst, hier mit einiger Verspätung noch eine farbige:
    http://vimeo.com/35666116

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  2. Ich bin gar nicht mutig. Wenn ich mutig wäre, dann hätte ich ihn Humpty Dumpty genannt.

    Jetzt sehe ich gerade, Herr Google ist ja auch in deinen Postkarten!
    Gehts ihr und dir denn immer noch gut?
    Das ist es eben mit den Postkarten. Man erfährt nichts außer etwas vages, was vielleicht für jemand anderen so war, irgendwann.

    Ja, ich mag Postkarten.

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  3. Während ich hier mühselig meine Kommata zusammenfege und versuche, mein Schreibprojekt (ein arg verwinkeltes Luftschloss) endlich etwas wohnlicher zu gestalten, fliegt die kleine Schwester nach Namibia, um auf einer Pferdefarm zu helfen.

    Die Sprache galoppiert den Bildern bei mir immer hinterher. Und ich verheddere mich in meinem eigenen Lasso und muss anhalten. Willkürliche Kommasetzung wohin das Auge blickt. Du scheinst es da etwas einfacher zu haben? Hier ist zumindest immer alles schön ordentlich.

    Hoffe, du hattest derweil einen schönen Transparenzvortrag? Und überhaupt -

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  4. Hier ist es nicht so ordentlich wie es scheint, die Zeit zerrt immer an der Leine, wenn ich sie ausführe. Die Kommata allerdings, ja, die hüpfen meist ganz brav an ihre Plätze. Die sind eben gut erzogen.

    Die Konferenz war schön, ob mein Vortrag es war weiß ich nicht, ich konnte ihn ja nicht sehen.

    Wenn du dein Schreibprojekt beendest und wenn ich jemals Zeit finde, hier aufzuräumen und etwas Echtes zusammenzubauen, kaufen wir unsere Bücher dann gegenseitig?

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  5. Solange nicht irgendwelche obskuren Kommentare aus dem Internet mit abgedruckt werden, steh ich sofort in der Schlange ;-)

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  6. Ich würde ein paar leere Seiten lassen, damit du obskure Kommentare schreiben kannst. Ganz ohne Internet.

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