Diese Seite enthält nur Worte und ist nicht daran interessiert, deine Augen oder Ohren zu unterhalten.

Keine der Personen, die hier beschrieben werden, existiert wirklich. (In deinem Leben.)

Alles, was hier beschrieben wird, ist wahr. (In deinem Kopf.)



Samstag, 24. Dezember 2011

Das Schwefelweib

Oder: Ein Körper erzählt




Ihre Zähne sind schwarz und vereinzelt wie die Schlote der Fabriken an den Stadträndern. Kaum einer hat diese Zähne je gesehen, sie geizt mit ihrem Lächeln wie mit ihren Worten. Man sagt sie sei einst ein Zündholzmädchen gewesen, das schönste und ärmste des Landes. Doch was man in ihrem rußigen Gesicht noch von Schönheit finden kann, muss man suchen.
Und das wäre ein Wagnis unter ihrem gelben harten Blick.


Trotzdem: wenn Männer (und auch einige Frauen, vor allem die Zündholzmädchen) von ihr sprechen, so schwingt stets auch ein wenig Begehren in den vertraulich gesenkten Stimmen mit.
Sie wohnt nicht mehr in der Stadt (falls sie es jemals tat) und ist schon lange in die Wälder zu den Köhlern gezogen. Dort macht sie Zündhölzer, die sie – immer noch? – selbst verkauft. Nie würde sie ein Mädchen für diese Arbeit anstellen. Vielleicht kommen daher die Gerüchte. Der Mensch liebt die Narben anderer.


Man erkennt sie schon von weitem an ihren langen, verfilzten Haaren und der rußgeschwärzten Kleidung. Der Schwefelgeruch folgt ihr wie ein lästiger Liebhaber, den sie schon lange nicht mehr bemerkt. Ihr auffälligstes Merkmal aber, die vernarbten Wangen, sieht man erst von Nahem. Es sind keine tiefen Narben oder hohe Wülste wie von schweren Schnittwunden, vielmehr ein feines Geflecht, fast wie Wurzelwerk oder Blattadern.
Mit diesen Narben sticht sie selbst das schönste und ärmste Zündholzmädchen aus.


An kalten Wintertagen steht sie versteckt in Hauseingängen oder an Fensterscheiben zu warmen Stuben. Sie muss ihre Kunden nicht suchen, sie wird gesucht.
So steht sie, greift sich manchmal ein Zündholz aus der einen Manteltasche, eine Zigarette aus der anderen, und entzündet mit einem energischen Ruck des Handgelenks das Holz an ihrer Wange. Dann nimmt sie ein, zwei tiefe Züge ihrer Zigarette, spuckt aus und gibt sie einem Vorbeigehenden, Obdachlosen, meist aber den Zündholzmädchen. Diese Geste hat, obwohl sie stets stoisch ausgeführt wird, etwas Herrisches, Herabwürdigendes. Niemand wagt es, diese Zigarette abzulehnen, nicht einmal die Nichtraucher, vor allem aber nicht die Mädchen. Es heißt sie sammelten die Filter und tauschten sie untereinander.


Ihr Geschäft scheint gut zu laufen, wenn ein besonders schöner junger Mann oder eine herausragend bezaubernde junge Frau zu ihr kommt, hält sie ihnen stumm die Wange hin, damit sie ein Streichholz daran entzünden können. Auch dieses Angebot wird nie ausgeschlagen und egal wie sehr alle betonen, wie unangenehm und unheimlich der gesamte Handlungsablauf sei, hat noch niemand, dem diese zweifelhafte Ehre zuteilwurde, davon berichten können ohne rot zu werden und gegen das stolze Lächeln anzukämpfen.


Man sagt, sie wäre schon zweimal gestorben, einmal vor Kälte, einmal im Feuer. Man sagt, vielleicht habe sie das hilflose, stumme Sehnen derer, die von ihr wissen, zurückgebracht. Oder vielleicht die Kälte, die sie hinterließ.


Ihre Figur ist raues dünnes Holz, ihr Gesicht ist aufreibend. Niemand kennt sie tatsächlich, darum ist es eigentlich müßig, diese Gerüchte zusammenzufassen. Ihr Körper erzählt, aber er lügt wahrscheinlich.








der körper erzählt (lügt nie)
nichts neu- nichts alt- nichts änd-
ernd alles andere nur gefühl und er
-inner-
ung




narben (risse) flüstern (fressen) von
verbissenen verflossenen
wissenden




zitternd (nie zaudernd)
witternd (nie lauernd)
ver-
harrt er der dinge die da


mögen

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Die Jagd





Das Haselmull drückt seinen kleinen nackten, blassen Körper tief in die dunkelste Ecke des Unterholzes und lauscht. Seine graue Haut, die sich dünn über den filigranen Knochen spannt, zittert sanft vor Kälte und Aufregung. Scheu richtet es sich auf und wittert. Die schwarzen langen Wimpern über den halbblinden Knopfaugen flattern hoffnungsvoll. Da, da ist es. Das Geräusch, die Erschütterung, nach der es Ausschau gehalten hatte.


Das Traben des Rotwolfs ist weithin zu hören. Sein Geruch ist so scharf, dass selbst du ihn aus mehreren hundert Metern Entfernung wahrnehmen könntest. Er muss nicht schleichen oder pirschen. Er lacht heulend.


Das Mull versteckt sich weiterhin. Das gehört zum Spiel. Zur Jagd. Es hört den Wolf näher und näher kommen, knurren, wüten, Äste zerbrechen und kleine Gewächse entwurzeln. Es muss den richtigen Moment abwarten, darf sich nicht zu früh zeigen, den riesigen Rotwolf nicht verschrecken.
Ein Haselmull ist keine lohnende Beute aber ein gerissener Jäger.


Es hört den Wolf näherkommen, das Geäst bebt unter seinen sicheren Schritten. Sein Geruch ist betörend. Nun ist er schon fast am Versteck des Haselmulls. Das Herz des Mulls pocht als es verschwommen die schweren roten Vorderpfoten erblickt.
Es schießt aus dem Unterholz hervor, unter den kräftigen Körper des Wolfs, dann blitzschnell zwischen seinen Vorderpfoten hindurch. Wie zufällig den Nacken entblößend. Einladend. Bittend.
Der Wolf, mechanisch, schnappt zu.




Deine Schritte zerreißen mich.
Bitte zerbeiß mich nicht
ohne dein heiseres Wildgeschrei.


Pack meinen Nacken,
verrenke Gelenke und
schlage mein Zagen nicht
ohne dein leiseres Lustgestöhn.


Verwöhne meine Schauer.
Schau genauer:
wir sind blutwarm,
nie handzahm,
entrückt,
geschmückt mit Lachen
machen wir die Nacht
zur Wacht
und selbst an Tagen –


lass uns noch einmal Jagen
spielen.